Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
so viele zartgebaute Frauen. Es heißt, sie sei hässlich, in Wahrheit ist sie dem Schönheitsideal nur um einige Jahrzehnte voraus.
Als Omer das eheliche Schlafzimmer betritt, steht Saba dort und wartet auf ihn, in den roten Schleier gehüllt, den er ihr abnehmen muss, so will es die Tradition. Aber Omer, betrunken wie er ist, bemerkt ihre Anwesenheit nicht. Er ist es gewohnt, alleine zu schlafen, mit seiner Flasche und seinen Albträumen. Ohne sich auszuziehen wirft er sich aufs Bett und beginnt nach kurzer Zeit zu schnarchen.
Saba bleibt in der Zimmerecke stehen, sie wagt es nicht, sich zu bewegen. Die Stunden verstreichen, und sie steht dort, während er schläft. Saba weiß, dass sie ihn niemals lieben kann. Ihre Schwester hat ihn geliebt, sie war seine Braut. Sie selbst ist nur ein Ersatz, aber für den Tod gibt es keinen Ersatz. Dennoch hofft sie, dass er erwacht. Vielleicht, um über jene Frau zu sprechen, die beiden so viel bedeutet hat. Die Liebe zu ihr könnte sie einen.
Als ihre Schwester heiratete, war Saba ein kleines Kind, aber sie kann sich erinnern, wie sie sich um sie gekümmert, auf sie aufgepasst hat, wie sie sie streichelte und liebkoste. Die Eltern hatten nicht viel Zeit, ihre Kinder in die Arme zu schließen.
Durch das Fenster sieht sie das trübe Mondlicht, sie folgt seinen Spuren. Ihr kindlicher Geist irrt auf unbekannten Wegen, sie ist sicher, dass es immer so bleiben wird. Ihre Füße in den goldfarbenen Schuhen schmerzen.
Als Omer erwacht, krähen bereits die ersten Hähne. Wie immer streckt er die Hand nach der Grappaflasche aus, aber er kann sie nicht finden. Er richtet sich auf, um nachzusehen, und bemerkt, dass er nicht allein ist. Zuerst begreift er nicht, was diese rote Gestalt in seinem Zimmer zu bedeuten hat. Er denkt an seine Gespenster, seine Toten, die ihn nachts, wenn er vom Alkohol benebelt ist, besuchen kommen.
Verdammt, es dämmert schon! Was soll ich jetzt tun?, fragt er sich.
Die Mutter wird mit den anderen Frauen der Familie kommen und das befleckte Laken suchen, um es auf dem Hof auszubreiten.
Er springt aus dem Bett auf, tritt auf Saba zu und nimmt ihr mit einer schroffen Geste den roten Schleier ab.
Das dumme Ding hat die ganze Nacht gestanden, hätte sich doch wenigstens setzen können, denkt er.
Saba hebt den Blick, um ihrem Schicksal ins Angesicht zu schauen, wer weiß, ob sie sich ein Streicheln über die Wange oder ein zärtlich ins Ohr geflüstertes Wort erhofft. Saba bleibt kaum Zeit zu denken, er packt sie an einer Hand und stößt sie unsanft aufs Bett.
Saba versucht, sich zu wehren, aber ein Schlag trifft sie mitten ins Gesicht. Der Bräutigam hat es wirklich eilig. Sie leistet Widerstand, sie kratzt ihn.
»Begreifst du nicht, dass es in unser beider Interesse ist?«, sagt er.
Ohne das Laken würde es im Dorf heißen, die Braut sei nicht mehr unberührt gewesen, oder dem Bräutigam fehle es an Manneskraft. Böse Zungen würden gleich hinzufügen: Deshalb ist er so lange alleine geblieben, der Kummer hat alles in ihm versiegen lassen!
Omer hat keine Zeit zu verlieren.
Am Morgen liegt das Laken, für alle sichtbar, ausgebreitet im Hof, mit dem roten Fleck in der Mitte, einer Verletzung gleich.
Saba hat ihre Regel noch nicht und wird die nächsten vier Jahre keine Kinder zur Welt bringen. Die Schwiegermutter schaut sie finster an. Sie lässt keine Gelegenheit aus, ihr in die scheuen Augen zu starren und sie »verschrecktes Huhn« zu nennen.
Zwei
Sabas Familie gehörte zu einem großen Clan, der im Dorf einiges zählte. Sie besaßen viel Land und viel Vieh. Sie besaßen auch gesunden Menschenverstand, der häufig gerade den Leuten fehlt, die mehr Dinge haben als andere. Jene Dinge, die den Unterschied ausmachen. Aber sie fühlten sich kein bisschen anders als der Rest des Dorfes. Während der Ernte arbeiteten sie gemeinsam mit den Tagelöhnern auf den Feldern. Die große Küche stand jedem offen. »Brot, Salz und Herz«, sagte die Hausherrin Meliha mit einem breiten Lächeln, sobald jemand sie bei Tisch beehrte. »Das Rad dreht sich, und diesmal sind wir auf der richtigen Seite.«
Meliha war die Seele dieser Familie. Sie konnte weder lesen noch schreiben, aber ihr Geist war fähig, alles zu überblicken, ohne sich jemals zu trüben. Sie überblickte die Getreideernte und die Weinlese, die Hochzeiten ihrer Söhne, den Umgang zwischen den Schwiegertöchtern, die Verhandlungen zur Eheschließung der Mädchen und die Wendungen des Schicksals,
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