Rote Jägerin - Wells, J: Rote Jägerin - Red-Headed Stepchild
Bewusstsein auf, eine vage Erinnerung, die ich nicht fassen konnte. Wie von Ferne hörte ich Schreie und das Hämmern von Fäusten. Etwas Helles leuchtete in meiner Nähe auf, und dann vernahm ich das Kreischen einer Frau.
Doch das Rauschen des Blutes in meinem Kopf lenkte mich ab. Meine Brust pochte, aber es kamen keine Flammen. Kein Feuer saugte mir die Seele aus dem Leib.
Nach und nach schüttelte mein Geist den Schock ab. Die Kampfgeräusche rückten allmählich wieder stärker in mein Bewusstsein. Ich konnte mein eigenes Blut riechen, aber in meine Hände kehrte Leben zurück. Meine Augen
richteten sich auf den Pflock, der noch immer in meiner Brust steckte. Ich hob die Hände und fasste nach dem glatten Holz. Ich war schwach und der Pfahl schmierig von Blut, doch es gelang mir, ihn langsam Stück für Stück herauszuziehen. Der Schmerz war noch unerträglicher als bei der vorausgegangenen Pfählung, aber er machte mir nichts aus. Er bedeutete, dass ich am Leben war.
Adams Fluchen klang ebenso dringlich wie der Knall, der folgte. Ich musste mich aufrichten. Mit den Händen zog ich mich an den Kisten hoch in eine mehr oder weniger senkrechte Position. Nachdem der Pflock aus meiner Brust entfernt worden war, arbeitete mein Körper auf Hochtouren an seiner Heilung. Mir war schwindelig, und ich musste mich für einen Moment vorbeugen und mich mit den Händen auf den Knien abstützen. Als das Schwindelgefühl vorüber war, richtete ich mich auf, um zu sehen, was geschehen war.
Falls das möglich war, so sah das Lagerhaus noch schlimmer aus als zuvor. Brandspuren hatten die Wände geschwärzt, und überall lagen Trümmer von den stattgefundenen Kämpfen herum. Inmitten des Durcheinanders rangen noch immer Adam und Lavinia miteinander. Ich hatte meine Großmutter noch nie so ausgezehrt und mitgenommen gesehen. Auf ihrer Stirn hatte sie einen blutigen Schnitt, und ihre Haare standen in seltsamen Büscheln vom Kopf ab, als hätte sie die Finger in eine Steckdose gesteckt.
Adam sah nicht viel besser aus. Auf seinen Wangen waren rote Kratzer zu erkennen, und er hatte einen Ärmel verloren, so dass man die Schnitte auf seinem nackten Arm sehen konnte. Zum Glück schien einer der Schlüssel tatsächlich zu seinen Handschellen gehört zu
haben, denn er war wieder frei und in der Lage, seine Magie zum Einsatz zu bringen. Trotzdem schwankte er vor Erschöpfung, als er einen Arm hob und einen weiteren Zauber abfeuerte. Ein schwaches Aufblitzen von Energie sauste im Zickzack durch die Halle, verfehlte Lavinias Kopf aber um wenige Zentimeter.
Sie lachte heiser und stürmte auf ihn zu, die Lippen zurückgezogen, um ihre Reißzähne zu entblößen.
»Stopp!«, brüllte ich, ohne nachzudenken.
Sie hielt mitten in der Bewegung inne, einen halben Meter von Adam entfernt. Fassungslos starrte sie mich an. Adam hingegen wandte langsam den Kopf und lächelte. Er wirkte weniger überrascht als erleichtert. Schließlich war er derjenige gewesen, der Giguhl gerufen hatte, um meine Immunität gegen die verbotene Frucht zu testen. Warum er überhaupt auf diese Idee gekommen war, würde ich ihn wohl ein anderes Mal fragen müssen.
»Wurde ja auch allmählich Zeit, dass du wieder dazustößt.« Seine Stimme klang erschöpft. Auch mir war ziemlich zittrig zumute. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke – ein intensiver Austausch von Gefühlen zwischen zwei Wesen, denen starke Emotionen meist nicht ganz geheuer waren.
»Lilith schütze mich«, flüsterte Lavinia entsetzt, ohne dass wir sie beachteten.
Trotz des plötzlichen Bedürfnisses in Tränen auszubrechen, schaffte ich es, mit den Achseln zu zucken. »Ich tue mein Bestes«, sagte ich zu Adam.
Nun unterbrach uns doch die schrille Stimme meiner Großmutter. »Warum bist du nicht tot? Verbrannt? Der Pflock hat dein Herz durchbohrt, ich weiß es!«, schrie sie.
Ich kam vorsichtig einen Schritt näher, da ich nicht
wusste, ob meine Kräfte schon wieder ganz zurückgekehrt waren. Meine Großmutter wich zurück. Demonstrativ legte ich eine Hand auf die Wunde in meiner Brust. »Stimmt. Das habt Ihr gut gemacht, keine Sorge.«
»Aber warum …«
»Sieht ganz so aus, als hätte ich mehr als nur Magie von meinem Vater geerbt.« Als sie mich noch immer verständnislos anblickte, fügte ich hinzu: »Die verbotene Frucht hat keine Wirkung auf mich.«
Ihre Kinnlade klappte herunter und einen Moment lang kostete ich die Tatsache aus, zur Abwechslung einmal sie schockieren zu können.
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