Rote Jägerin - Wells, J: Rote Jägerin - Red-Headed Stepchild
Aufmerksamkeit gerückt. Sie erwartete von mir, dass ich all das erfüllen sollte, was meine Mutter nie gekonnt und auch nie gewollt hatte. Aber meine sogenannte zweifelhafte Herkunft machte es für mich unmöglich, jemals hundertprozentig in der Vampir-Gesellschaft anerkannt zu werden. Also erzog sie mich zur besten Vampirin, die ich werden konnte – trotz der Einschränkungen, die meine Geburt bedeutete.
Manchmal hasste ich es, für etwas zur Rechenschaft gezogen zu werden, wofür ich in Wahrheit nichts konnte. Ich hasste die ständigen hohen Erwartungen meiner Großmutter und den Druck, dem ich ausgeliefert war. Trotzdem war ich der festen Überzeugung, dass sie stets das Beste für mich getan und gewollt hatte.
Ich versuchte nicht daran zu denken, warum sie gerade mir den Auftrag erteilt hatte, David zu töten. Als ich im Wald auf ihn wartete, hatten mich Fragen gequält, die ich mir eigentlich nie hatte stellen wollen. Großmutter hat sicher einen guten Grund, hatte ich mir innerlich eingeredet. Vielleicht verstand ich ihn einfach nicht oder er sagte mir nicht zu. Manchmal musste man aus Loyalität eben bestimmte Dinge tun, auch wenn man sie nicht begriff. Das hatte mir meine Großmutter schon früh eingebläut.
Als ob ich sie durch meine Gedanken gerufen hätte, trat sie auf einmal in die Kapelle. Sie warf mir einen raschen Blick zu und schloss dann hastig die Tür.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte sie. »Die Messdiener werden bald eintreffen.«
Sie trat an den Altar und kniete nieder. Während sie mit der Stirn den Boden berührte, wartete ich regungslos.
Als sie sich wieder erhob, hatten sich die Kerzen um den Altar ohne fremde Hilfe entzündet. Nun nahm sie die goldene Lotusfigur und küsste sie. Dann stellte sie sie an ihren Platz zurück und wandte sich mir zu.
»Was gibt es?«
Ich wusste, dass wir nicht viel Zeit hatten. Doch ein Teil von mir sehnte sich danach, zumindest die Andeutung von Zuneigung zu spüren. Doch wie so oft wurde ich enttäuscht. Ich schob die Enttäuschung beiseite und konzentrierte mich auf das Wesentliche.
»Ich breche noch heute Nacht nach San Francisco auf. Morgen findet das Treffen statt.«
»Ausgezeichnet«, antwortete Lavinia und rieb ihre schlanken, milchig weißen Hände. »Ich werde sogleich Persephone und Tanith informieren.«
Ich nickte, was sie jedoch nicht bemerkte. Sie war viel zu tief in Gedanken versunken. »Gibt es noch weitere Anweisungen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde mit dir über dein abhörsicheres Handy in Kontakt bleiben. Und gib bloß niemandem deine Nummer.«
Ach, echt nicht? , dachte ich verärgert. In mir stieg Groll auf, auch wenn ich wusste, warum sie so etwas sagte. Sie wollte sicherstellen, dass der Auftrag ohne Komplikationen über die Bühne ging. Sie konnte nicht anders.
»Natürlich, Großmutter«, erwiderte ich. »Ich werde vorsichtig sein.«
»Hast du dir bereits überlegt, wie du das Treffen mit Clovis angehen willst?«
»Ja«, sagte ich. »Ich halte es für das Beste, wenn ich mich widerstrebend zeige. Wenn er mich für zu eifrig und interessiert hält, könnte er Verdacht schöpfen.«
Meine Großmutter nickte zustimmend. »Ich könnte mir vorstellen, dass er auch deine gemischte Herkunft dazu benutzen wird, dich auf seine Seite zu ziehen. Nutze das also zu deinem Vorteil.«
Ihr berechnendes Verhalten verärgerte mich von neuem. Meist verurteilte sie meine Herkunft als etwas Beschämendes, was man unter allen Umständen geheim halten musste. Doch wenn es ihren Plänen zugutekam, sollte ich dieselbe Herkunft auf einmal dazu einsetzen, zu tricksen und zu manipulieren. Ich nickte und hoffte insgeheim, dass ich Clovis auch überzeugen konnte, ohne allzu viele intime Familiendetails preisgeben zu müssen.
»Denk daran, dass Clovis zur Hälfte Dämon ist. Er kann sehr charmant sein, wenn er will.«
»Kennt Ihr ihn?«
»Ja. Sein Vater arbeitete als vertrauenswürdiger Berater der Dominae, als wir noch in Rom waren. Clovis zeigte damals trotz seiner Herkunft – das Resultat einer unglücklichen Affäre seines Vaters mit der Dämonin Akasha – großes Potenzial. Doch leider lockte ihn sein Mischblut schon bald auf Abwege, weg von den Lilim. Seitdem ist er uns immer wieder ein Dorn im Auge gewesen.«
»Das lässt das Ganze allerdings in einem etwas anderen Licht erscheinen.«
Sie ignorierte meine sarkastische Bemerkung und wandte sich ab. Ich nahm an, dass sie mich jetzt fortschicken wollte, da
Weitere Kostenlose Bücher