Rote Sonne über Darkover - 5
Berg empor. Es war fest und sicher, eine Verteidigung und ein Zufluchtsort wie so viele andere.
Ebenfalls wie die anderen war es ein Bewahrer des Wissens vor dem Zerfall durch die Zeit und der Zerstörung durch Menschenhand.
Die Hasturs hatten ihm die Erlaubnis erteilt, die Cristoforo -
Geschichte zu studieren. Vater Cerreno fragte sich, was sie wohl denken würden, wenn sie wüßten, was seine eigentliche Aufgabe war. Er sollte nachweisen, daß Vater Valentin nicht wert war, ein Heiliger genannt zu werden.
Vater Cerreno legte das Buch hin, in dem er gelesen hatte, und rieb die Hände gegeneinander. Die Wochen in Nevarsin hatten den Rest seines Körpers an die Kälte gewöhnt, aber seine langen, dünnen Finger schmerzten manchmal immer noch, besonders wenn er müde war. Er war in der Nacht mehrere Male durch Träume, die so schnell verflogen, daß ihr Inhalt ihm entschlüpfte, geweckt worden.
Und solche Nächte waren es in der letzten Zeit mehrere gewesen. Er wußte aus Erfahrung, daß die Träume irgendwann von selbst aufhören würden. Dieser Rhythmus hatte ihn durch den größten Teil seines Lebens begleitet, aber die Ursache hatte er nie herausgefunden.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und dann auf den Mann, der in einer Ecke des Raums an einem Tisch saß. Die Stunde war beinahe vorbei, doch wahrscheinlich würde er ihr Ende nicht eigens anzukündigen brauchen. Dom Rafael reagierte wie jeder hier in Nevarsin auf lautlose Glocken und ging im Dunkeln so sicher wie bei Tageslicht.
Rafael MacAlastair, etwa fünfundzwanzig Jahre alt und nach dem Brauch der Domänen gekleidet, war ein weltlicher Gelehrter, einer der wenigen auf Darkover, die ein solches Leben wählten. Er war zu Vater Cerrenos Sekretär ernannt worden, hatte sich aber auch als fähiger Assistent erwiesen.
Genau zur Stunde erhob Rafael sich von seinem Schemel, nahm einen Stapel Papiere auf und brachte sie dem Priester. »Meine Übersetzung, Vater.« Er wartete hoffnungsvoll, während sein Vorgesetzter seine Bemühungen überpüfte.
»Ausgezeichnet, Dom Rafael, aber mittlerweile bin ich dahin gekommen, von Euch nichts anderes zu erwarten.«
Rafael lächelte schüchtern. »Ich danke Euch, Vater.«
Vater Cerrenos Gesicht blieb ausdruckslos. »Kein Grund, mir zu danken, Dom Rafael. Gute Arbeit muß anerkannt werden.« Der Priester hielt inne, dann fuhr er fort: »Ihr seid sprachbegabt, und doch wundert es mich, warum Ihr Latein lernen wollt. Dafür werdet Ihr auf Darkover wenig Verwendung haben.«
»Das ist mir klar, Vater«, erwiderte Rafael. »Aber als Ihr mir erzähltet, es sei die alte Sprache der Kirche, war mir, als sei ich verpflichtet, sie zu lernen.«
»Die Sprache meiner Kirche, Dom Rafael«, erinnerte der Priester ihn. »Wir sind noch nicht sicher, daß es ebenso Eure Kirche ist. Ihr müßt lernen, Euer Urteil zurückzuhalten, bis Ihr den betreffenden Gegenstand gründlich studiert habt.«
»Ja, Vater.« Rafael ließ sich die Kritik gefallen. »Trotzdem kann ich nicht anders als hoffen, daß sie ein und dieselbe Kirche sind.«
»Warum, das, Dom Rafael?« fragte Vater Cerreno. »Ihr wißt sehr wenig über meine Kirche oder meinen Glauben. Vielleicht wird sich herausstellen, daß beides für Euch nicht akzeptabel ist.«
»Ich glaube nicht, daß das geschehen wird, Vater«, versicherte Rafael. Er setzte schnell hinzu: »Ich weiß, es hat den Anschein, als urteilte ich schon wieder voreilig, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß der Glaube eines Menschen, den ich so sehr respektiere wie Euch, für mich nicht akzeptabel wäre.«
Vater Cerreno sah den jungen Mann gleichmütig an; das Unbehagen, das er empfand, verbarg er. Rafaels Worte hatten ganz unschuldig geklungen, aber der Priester zog sich instinktiv vor jedem Ausdruck von Gefühlen zurück. Schließlich sagte er: »Die Kirche kann nicht nach dem Dienst beurteilt werden, den ein einzelner Mann ihr leistet. Was immer Ihr von mir denken mögt, ist in dieser Hinsicht ohne Belang. Wenn Ihr mehr über die Kirche zu lernen wünscht, werde ich Euch mit Freuden unterrichten.« Vater Cerreno faßte nach dem vor ihm liegenden Buch. »Und jetzt, glaube ich, habt Ihr in der Bibliothek zu tun, Dom Rafael.«
»Ja, Vater.« Rafael zögerte an der Tür. »Ihr braucht mich nicht die ganze Zeit Dom Rafael zu nennen, Vater. Rafael genügt.«
Ohne von seinem Buch aufzublicken, erwiderte Sebastian Cerreno ruhig: »Jedem Mann steht es zu, so angeredet zu werden, wie es den Höflichkeitsformen
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