Roter Engel
zurück. Sie war zu geschockt, als daß sie etwas hätte sagen, zu wütend, als daß sie die richtigen Worte hätte finden können.
Vickies Lippen zitterten. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie sagte: »O Gott. Das habe ich nicht so gemeint.«
Toby drehte ihr den Rücken zu und verließ die Kabine. Sie hielt nicht an, bis sie aus dem Gebäude war und vor ihrem Wagen stand.
Ihr erstes Ziel war das Haus, in dem Jane Nolan wohnte. Ihr Adreßbuch hatte sie in der Handtasche, und sie sah nach dem Eintrag für Jane. Sie wohnte in Brookline, nicht weit vom Springer Hospital.
Nach sechs Kilometern stand sie vor dem Doppelhaus mit grünen Schindeln in einer sterilen, baumlosen Straße. Auf der Vorderveranda standen Blumentöpfe mit staubtrockener Erde und ein paar verwelkenden Büscheln Unkraut. Die Fenster waren zugezogen, und die Vorhänge ließen keinen Blick ins Innere zu.
Toby läutete. Niemand machte auf. Sie klopfte, trommelte schließlich gegen die Tür.
Mach auf, verdammt. Sag mir, warum du mir das antust!
»Jane!« schrie sie.
Die Tür nebenan ging auf, und eine Frau streckte vorsichtig den Kopf heraus. »Ich suche Jane Nolan«, sagte Toby.
»Dann hören Sie schon auf, gegen die Tür zu schlagen. Sie ist nicht da.«
»Wann kommt sie zurück?«
»Wer sind Sie denn?«
»Ich will nur wissen, wann Jane zurück ist.«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen.« Die Frau machte die Tür zu.
Toby war kurz davor, einen Stein in Janes Fenster zu werfen.
Sie schlug ein letztes Mal mit der Faust gegen die Tür und stieg wieder in ihren Wagen.
So brach also alles über ihr zusammen. Ellen lag im Koma. Vickie war wie eine bösartige Fremde zu ihr. Sie lehnte sich vor und bemühte sich, nicht loszuheulen und in Stücke zu zerspringen. Ihre laut auf jaulende Hupe ließ sie hochfahren. Sie hatte sich mit zuviel Gewicht auf das Lenkrad gestützt. Ein Postbote, der gerade vorbeikam, hielt an und starrte zu ihr herein.
Sie fuhr los.
Wohin jetzt? Wohin?
Bryan. Er würde ihr Rückhalt geben. Er war an dem Tag dagewesen, als Ellen sich die Hände verbrannt hatte. Er würde der Zeuge für ihren guten Leumund sein, der einzige, der wußte, mit welcher Hingabe sie Ellen versorgt hatte.
Aber Bryan war nicht daheim. Sein Freund Noel, der an die Tür kam, sagte ihr, Bryan arbeite bis halb fünf. Ob Toby auf einen Kaffee hereinkommen wolle? Einen Drink?
Sie sehen aus, als sollten Sie sich mal eine Weile hinsetzen.
Was er meinte: Sie sah schrecklich aus.
Sie lehnte das Angebot ab, weil sie noch woandershin müsse.
Dann fuhr sie nach Hause.
Der Streifenwagen war weg. Drei Nachbarn standen vor ihrem Haus und unterhielten sich. Sie sahen Toby kommen, drehten sich um, starrten sie an. Als sie in ihrer Auffahrt war, waren sie schon in drei verschiedenen Richtungen davongegangen. Feiglinge. Warum fragten sie sie nicht von Angesicht zu Angesicht, ob sie ihre eigene Mutter geschlagen habe? Sie stürmte ins Haus und warf die Tür hinter sich zu.
Schweigen. Keine Ellen. Niemand ging durch den Garten, niemand saß vor dem Fernseher und sah sich die morgendlichen Comicfilme an.
Sie setzte sich auf die Couch und stützte den Kopf in die Hände.
15
»Ich bekomme ein Mädchen«, sagte Annie und streichelte ihren runden Bauch unter der Bettdecke. »Ich will auch, daß es ein Mädchen wird. Mit einem Buben könnte ich einfach nichts anfangen. Wüßte nicht, wie ich einen ordentlichen Kerl aus ihm machen sollte. Heutzutage trifft man ja kaum mehr einen ordentlichen Kerl.«
Sie lagen im Dunkeln nebeneinander in Annies Bett. Für die einzige schwache Beleuchtung sorgte die Straßen-lampe vor dem Fenster. Ab und zu kam noch das Licht eines vorbeifahrenden Autos dazu, in dem Molly dann kurz das Gesicht von Annie sah. Ihr Kopf ruhte auf dem Kissen, den Blick hatte sie ernst zur Decke gerichtet. Es war warm bei Annie im Bett. Sie hatten es heute frisch bezogen, hatten vorher zusammen im Waschsalon gesessen, gekichert und in alten Zeitschriften geblättert, während die Bezüge im Trockner wirbelten. Jetzt roch Molly bei jeder Bewegung den frischen Geruch des Seifenpulvers. Und den Geruch von Annie.
»Woher weißt du, daß es ein Mädchen wird?« fragte Molly.
»Das kann dir jeder Arzt sagen.«
»Warst du bei einem Arzt?«
»Also, bei
dem
ganz bestimmt nicht noch einmal. Der hat mir überhaupt nicht gefallen.«
»Wie kannst du dann wissen, daß es ein Mädchen ist?«
Annies Hände wanderten wieder
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