Roter Engel
was ich mir als junge Ärztin in der Ausbildung vorgestellt hatte, nicht das Leben, das sie sich so, wie es war, bewußt ausgesucht hätte. Aber manchmal hatte man keine Wahl, manchmal traf man auf widrige Umstände. Mit Aufgaben und Pflichten.
Ellen.
Toby trank ihren Kaffee aus und goß sich neuen ein, schwarz und heiß. Natürlich übersäuerte sie damit ihren Magen, aber sie brauchte das Koffein dringend. Robbies Beerdigung war in ihre übliche Schlafzeit gefallen, und so hatte sie nur noch ein paar Stunden gefunden, sich auszuruhen, bevor abends wieder die Arbeit gerufen hatte. Jetzt war es sechs Uhr morgens, und sie funktionierte nur noch automatisch mit Reflexen und zeitweiligen primitiven Gefühlsausbrüchen. Wut. Frust. Im Moment war es beides zusammen. Sie wußte, daß selbst nach Ende ihrer Schicht, wenn sie in anderthalb Stunden durch die Tür hinausgehen würde, wieder ein neues Bündel Sorgen und Verantwortlichkeiten auf sie warteten.
Fangen Sie an zu leben, hatte er gesagt. Und das hier war das Leben, was sie nun einmal führte und das ihr Kummer machte.
Als sie sich gestern abend für die Arbeit fertiggemacht hatte, hatte sie beim Blick in den Spiegel die ersten Haare entdeckt, die nicht mehr blond waren, sondern weiß. Wann war das passiert? Wann hatte sie die Grenze vom jungen ins mittlere Alter überschritten? Selbst wenn bestimmt niemand diese Haare entdeckt haben würde, hätte sie sie ausgezupft. Obwohl sie wußte, sie würden wieder genauso weiß nachwachsen. Tote Melanozyten regenerierten sich einfach nicht noch einmal. Den Jungbrunnen gab es bekanntlich nicht.
Um sieben Uhr dreißig trat sie schließlich von der Notaufnahme nach draußen und blieb stehen, um die frische Morgenluft einzuatmen. Eine Luft, die nicht nach Desinfektionsmitteln roch, nach reinem Alkohol und abgestandenem Kaffee. Ein schöner Tag kündigte sich an. Der Dunst verzog sich bereits und ließ entfernt einen blauen Himmel erkennen. Der bloße Anblick verbesserte schon ihre Stimmung. Die nächsten vier Tage hatte sie frei, um ihren Schlaf wieder einzuholen. Und für den nächsten Monat hatte sie zwei Wochen Urlaub angemeldet.
Vielleicht konnte sie Ellen dann Vickie überlassen und einmal richtig Ferien machen. In einem Hotel am Strand. Heißer Sand und kalte Drinks. Vielleicht eine kleine Romanze. Seit langem hatte sie mit keinem Mann mehr geschlafen. Sie hatte gehofft, mit Dvorak würde es soweit kommen. In letzter Zeit hatte sie oft an ihn gedacht, und zwar so, daß sie dabei unerwartet erröten mußte. Seit ihrem letzten und einzigen Lunch hatten sie sich zweimal am Telefon unterhalten, aber ihre divergierenden Arbeits-zeiten hatten es ihnen schwergemacht, sich zu treffen.
Und bei ihrem letzten Gespräch hatte er distanziert geklungen.
Gequält.
Habe ich ihn also so geschwind abgeschreckt?
Sie zwang sich, nicht mehr an Dvorak zu denken. Besser, an tropische Ziele und an Phantasiemänner zu denken.
Sie überquerte den Parkplatz und stieg in ihren Wagen.
Heute nachmittag rufe ich Vickie an,
dachte sie und fuhr los.
Wenn sie auf Mom nicht aufpassen will oder kann, dann stelle ich für die Woche jemanden ein.
Zum Teufel mit den Kosten. Seit Jahren hatte Toby Geld für ihre Altersversorgung zurückgelegt. Es war an der Zeit, es jetzt auszugeben und jetzt zu genießen.
Sie bog in ihre Straße ein und spürte plötzlich ihr Herz in Panik loshämmern.
Vor ihrem Haus standen ein Streifenwagen und eine Ambulanz.
Noch bevor sie in die Auffahrt einbiegen konnte, fuhr die Ambulanz schon mit Blaulicht los und raste die Straße hinunter.
Toby stellte den Wagen ab und rannte ins Haus. Ein Cop in Uniform stand im Wohnzimmer und notierte etwas in seinen Spiralblock.
»Was ist passiert?« sagte Toby.
Der Cop sah sie an. »Sie heißen, Ma’am?«
»Das hier ist mein Haus. Was tun Sie hier? Wo ist meine Mutter?«
»Sie fahren sie gerade ins Springer Hospital.«
»Hat es einen Unfall gegeben?«
Sie hörte Janes Stimme. »Nein, keinen Unfall.«
Toby drehte sich um. Jane stand in der Küchentür. »Ich habe sie nicht wach bekommen«, sagte sie. »Darum habe ich die Ambulanz gerufen.«
»Sie konnten sie nicht
wecken?
Hat sie denn reagiert?«
»Sie konnte sich anscheinend nicht bewegen. Auch nicht sprechen.« Jane und der Polizist wechselten einen Blick, den sich Toby nicht erklären konnte. Da erst kam ihr die Frage in den Sinn:
Was hatte ein Polizeibeamter in ihrem Haus zu suchen?
Hier verlor sie nur Zeit. Sie drehte sich
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