Roter Engel
über ihren Bauch. »Ich weiß es einfach. Diese Schwester, mit der ich gesprochen habe, hat mir gesagt, wenn eine Mutter so ein Gefühl hat, ein wirklich starkes Gefühl, dann irrt sie sich nie. Das hier drin ist ein Mädchen.«
»Bei meinem habe ich kein Gefühl.«
»Vielleicht ist es bei dir noch zu früh, Molly.«
»Ich habe so oder so kein Gefühl, was das Baby angeht. Weißt du, es ist noch gar kein richtiges Wesen für mich. Es ist einfach ein fetter Klumpen, der sich da herauswölbt. Sollte ich nicht so etwas wie Liebe spüren oder etwas Ähnliches? Ich meine, erwartet man das nicht in der Art?« Sie drehte sich um und sah Annie an, deren Gesicht sich vor dem Fenster abzeichnete.
»Irgendwas mußt du fühlen«, sagte Annie leise. »Wozu sonst hast du es im Bauch?«
»Ich weiß nicht.«
Molly spürte Annies Hand, die unter der Decke zu ihr kam. Sie verschränkten die Finger ineinander und atmeten genau im gleichen Rhythmus.
»Ich weiß nicht, was ich mache und warum«, sagte Molly. »Irgendwie habe ich alles vermurkst. Und als Romy mich dann herumschubste, war ich so sauer auf ihn, daß ich nichts mehr von dem tat, was er wollte. Deswegen bin ich auch nicht zu dem Arzt gegangen.« Sie sah wieder Annie an. »Wie machen sie das?«
»Was?«
»Es wegmachen.«
Annie schüttelte sich. »Ich habe es nur einmal machen lassen. Letztes Jahr. Da hat Romy mich auch dorthin geschickt. Die Leute waren alle ganz in Blau gekleidet. Haben praktisch kein Wort mit mir geredet, nur einmal gesagt, ich soll mich auf den Stuhl legen und die Klappe halten. Sie gaben mir dann etwas zum Einatmen, und als nächstes erinnere ich mich ans Aufwachen. Da war ich wieder ganz dünn. Leer …«
»War es ein Mädchen gewesen?«
Annie seufzte. »Ich weiß nicht. Sie haben mich in den Wagen gesetzt und zu Romy zurückgebracht.« Annie zog ihre Hand weg. Es war nicht nur körperlicher Rückzug, sondern einer in sich selbst. In ihr Innerstes und zu ihrem Baby.
Nach einem langen Schweigen sagte Annie: »Weißt du, Molly, viel länger kannst du hier nicht mehr bleiben.« So sanft und leise sie das auch gesagt hatte, für Molly war es ein Schlag.
Sie drehte sich auf die Seite und sah Annie an. »Was habe ich falsch gemacht? Sag mir, was ich falsch gemacht habe.«
»Nichts. Es geht nur so nicht mehr weiter.«
»Warum nicht? Ich tue noch mehr für dich. Ich tue, was immer du …«
»Molly, ich habe gesagt, du kannst ein paar Tage bleiben. Jetzt sind es schon zwei Wochen. Liebes, ich mag dich und überhaupt, aber Mr. Lorenzo war heute bei mir. Beschwerte sich, daß hier jemand bei mir wohnt. Sagte, das steht nicht in unserem Mietvertrag. Ich kann dich also nicht mehr hier wohnen lassen. Es ist eng genug hier mit uns beiden. Wenn mein Baby kommt …«
»Das dauert doch noch einen Monat.«
»Molly.« Annies Stimme wurde härter, unnachgiebiger. »Du mußt dir eine eigene Unterkunft suchen. Ich kann dich nicht hierbehalten.«
Molly drehte Annie den Rücken zu.
Ich dachte, wir könnten so etwas wie eine Familie sein. Du und dein Baby. Ich und mein Baby. Keine Männer, keine Widerlinge.
»Molly? Bist du okay?«
»Mir geht’s gut.«
»Du verstehst das doch, oder?«
Molly zuckte einmal müde mit der Schulter. »Ich glaube schon.«
»Es muß auch nicht gleich sein. Ein paar Tage kannst du noch bleiben und dich nach etwas anderem umsehen. Vielleicht rufst du noch einmal deine Mama an.«
»Ja.«
»Sie muß dich doch wieder nehmen. Sie ist schließlich deine Mama.«
Als keine Antwort kam, schlang sie einen Arm um Mollys Leib. Der warme Körper der Frau und ihr geschwollener Bauch, der gegen ihren Rücken drückte, erfüllten Molly mit so einer Sehnsucht, daß sie nicht widerstehen konnte. Sie drehte sich um, schlang ihrerseits die Arme um Annies Leib und zog sie fest an sich. Ihre Bäuche lagen aneinandergepreßt wie reife Früchte. Und plötzlich hatte sie den Wunsch,
sie
wäre in Annies Leib, sie wäre das Kind, das Schutz in Annies Armen fand.
»Laß mich bei dir bleiben«, flüsterte sie. »Bitte, laß mich bleiben.«
Annie schob Mollys Hände mit festem Griff weg. »Das geht nicht. Es tut mir leid, Molly,
aber das geht nicht.
« Sie drehte sich um und rutschte von ihr weg zum Bettrand. »Und jetzt gute Nacht.«
Molly lag ganz ruhig da.
Was habe ich gesagt? Was habe ich falsch gemacht? Bitte, ich tue doch, was du von mir verlangst. Sag mir nur, was!
Sie wußte, daß Annie noch nicht schlief. Die Spannung zwischen ihnen in der
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