Roter Engel
nahm ihren Teller und aß ein paar Bissen Lasagne. Sie merkte, daß Ellen nicht aß. »Das ist dein Abendessen, Mom. Nimm es und iß. Steck es dir in den Mund.«
Ellen schob die leere Gabel in den Mund und schmeckte mit voller Konzentration.
»Komm. Ich helfe dir.« Toby nahm die Gabel, holte etwas vom Teller und hob sie wieder zum Mund ihrer Mutter.
»Sehr gut«, sagte Ellen.
»Und jetzt der nächste Bissen. Weiter, Mom.«
Es läutete an der Tür. Ellen hob den Kopf.
»Das dürfte schon Bryan sein«, sagte Toby und stand auf. »Iß weiter. Warte nicht auf mich.«
Sie ließ ihre Mutter in der Küche sitzen und ging zur Haustür.
»Sie sind früh dran.«
»Ich dachte, ich helfe Ihnen ein wenig beim Kochen«, sagte Bryan und kam ins Haus. Er hielt ihre eine Papiertüte hin. »Eiskrem. Ihre Mama liebt ihr Erdbeereis.«
Als sie die Tüte in Empfang nahm, fiel ihr auf, daß Bryan sie nicht ansah. Er schien tatsächlich ihrem Blick auszuweichen und drehte ihr den Rücken zu, als er die Jacke auszog und in den Schrank hängte. Sogar, als er sich dann zu ihr umdrehte, sah er in eine andere Richtung. »Also, wie steht es mit dem Essen?« fragte er.
»Ich habe ihr gerade an den Tisch geholfen. Es geht heute ein wenig schwierig mit dem Essen.«
»Schon wieder?«
»Das Sandwich, das ich für sie vorbereitet hatte, hat sie nicht angerührt. Die Lasagne schaut sie an, als sei das etwas von einem anderen Planeten.«
»Ach. Ich kümmere mich darum …«
Aus der Küche hörte man einen lauten Knall. Zerborstenes Porzellan schepperte über den Fußboden.
»O mein Gott«, rief Toby und rannte in die Küche.
Ellen starrte verwirrt auf die Scherben. Die Lasagne lief in dicken Käse- und Tomatenspritzern auf dem Fußboden aus. Auch an einer Wand waren Flecken.
»Mom, was
tust
du denn da?« schrie Toby.
Ellen schüttelte den Kopf und murmelte: »Zu heiß. Ich wußte nicht, daß der Teller so heiß ist.«
»Himmel, sieh dir diese Schweinerei an! Der ganze Käse und die Sauce …« Toby griff nach dem Kehrblech. Wütend und frustriert schob sie es unter die Scherben. Als sie sich hinkniete, um die Essensreste aufzuwischen, merkte sie, daß sie den Tränen gefährlich nah war.
Alles geht schief. In meinem Leben klappt aber auch nichts mehr. Das hier halte ich nicht auch noch aus. Ich kann einfach nicht mehr.
»Kommen Sie, Ellen. Liebes«, hörte sie Bryan sagen. »Was ist mit Ihren Händen? Du liebe Zeit, die müssen wir ins kalte Wasser halten. Nein, nein, nicht wegziehen, Liebling. Lassen Sie mich machen, dann geht es Ihnen gleich wieder besser. Das ist schlimm, nicht wahr?«
Toby sah auf. »Was hat sie denn?«
»Ihre Mama hat sich die Finger verbrannt.«
»Au«, jammerte Ellen, »au, au.«
Bryan führte Ellen zum Spülbecken und ließ kaltes Wasser über ihre Hände fließen. »Tut das nicht gut? Und danach gibt es ein Eis, dann geht es Ihnen bestimmt besser. Ich habe Erdbeereis mitgebracht. Ham, ham.«
»Ham«, murmelte Ellen.
Mit schamroten Wangen sah Toby zu, wie Bryan Ellens Hände zart mit einem Handtuch abtupfte. Toby hatte nicht einmal gemerkt, daß ihre Mutter sich weh getan hatte. Schweigend beseitigte sie die restlichen Scherben und die langsam erstarrenden Käsespritzer. Sie wischte die Sauce von Boden und Wand. Dann setzte sie sich an den Tisch und sah zu, wie Bryan ihrer Mutter das Eis schmackhaft machte. Seine Geduld, seine sanften Überredungsversuche machten Toby nur noch größere Schuldgefühle. Bryan war es gewesen, der Ellens verbrannte Finger bemerkt hatte, und auch wieder Bryan, der gewußt hatte, was ihr nun guttat. Toby hatte nur das zerbrochene Geschirr und die »Schweinerei« am Boden gesehen.
Inzwischen war es Viertel nach sechs geworden, Zeit für Toby, zur Arbeit zu gehen.
Sie hatte nicht die Kraft, vom Tisch aufzustehen, sondern saß da, die Stirn auf die Hände gelegt, und blieb einfach noch eine Zeitlang sitzen.
»Ich muß Ihnen etwas sagen«, sagte Bryan. Er legte den Löffel zur Seite und wischte Ellen mit der Serviette vorsichtig den Mund ab. Dann sah er Toby an. »Ich bin wirklich sehr traurig darüber. Es war keine leichte Entscheidung, aber …« Er legte die Serviette sorgfältig auf den Tisch. »Man hat mir eine Stelle angeboten. Etwas, das ich einfach nicht ausschlagen kann. Etwas, das ich mir schon lange gewünscht habe. Nicht, daß ich nach einem neuen Job
gesucht
hätte – es ist einfach so passiert.«
»
Was
ist passiert?«
»Das Twin-Pines-Pflegeheim hat mich
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