Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
fertig zu werden, hatten er und seine Assistenten immer eine Schutzkleidung an und Sauerstoffmasken griffbereit. Aber heute konnten sie mit Standardhandschuhen und Röntgenbrillen arbeiten, und sie hatten es mit einer Leiche zu tun, die man im Krankenhaus bereits auf HIV und Hepatitis untersucht hatte. Autopsien waren grundsätzlich keine angenehme Sache, doch diese würde relativ gut abgehen. Und wahrscheinlich ohne besondere Ergebnisse.
    Er richtete das Licht wieder genau auf den Seziertisch aus. Der Tote hatte Arme wie ein Nadelkissen – typisch für Patienten, die im Krankenhaus gestorben waren. Vier Einstiche zählte Dvorak am linken, fünf am rechten Arm. Auch in der rechten Leistengegend fand sich ein Einstich – wahrscheinlich von einer Blutgasentnahme. Friedlich war dieser Patient nicht entschlafen.
    Er nahm das Skalpell und setzte den Y-Schnitt an. Das Brustbein hob er in einem ab, und damit lagen Brust und Bauchhöhle offen.
    Die Organe waren unauffällig.
    Er hob sie heraus und diktierte dazu die Befunde.
    »Der Körper einer gut genährten Person, weiß, männlich, zweiundachtzig Jahre alt …« Er brach ab. Das Alter konnte falsch sein. Er blätterte zur ersten Seite des Krankenblatts zurück und sah nach dem Geburtsdatum. Zweiundachtzig stimmte.
    »Geschätzt hätte ich den auf fünfundsechzig«, sagte Lisa.
    »Hier steht: zweiundachtzig.«
    »Könnte das nicht ein Fehler sein?«
    Dvorak sah sich das Gesicht näher an. Die Unterschiede im Alterungsprozeß hatten sowohl etwas mit der Genetik zu tun als auch mit dem Lebensstil. Er hatte schon mehr als eine achtzigjährige Frau gesehen, die für sechzig hätte durchgehen können.
    Und er hatte fünfunddreißig Jahre alte Alkoholiker gesehen, die praktisch »alt« waren. Vielleicht hatte die Natur Angus Parmenter nur mit besonders jugendlichen Genen beschenkt.
    »Ich checke das Alter später noch einmal ab«, sagte er und setzte sein Diktat fort. »Verstarb heute morgen 5.58 Uhr im Springer Hospital, Newton, Massachusetts, in das er sieben Tage zuvor als Patient aufgenommen wurde …«
    Und wieder nahm er das Skalpell zur Hand.
    Dvorak hatte diese Griffe schon so oft ausgeführt, daß es ganz – automatisch geschah. Er trennte Speise- und Luftröhre und die großen Gefäße ab, holte Lunge und Herz heraus. Lisa ließ sie auf die Waage gleiten und sagte die Gewichte an, legte dann das Herz auf das Sezierbrett. Dvorak plazierte die Koronargefäße daneben.
    »Ich glaube, mit einem Myokardinfarkt haben wir es nicht zu tun«, sagte er. »Die Koronargefäße sehen ziemlich sauber aus.«
    Er resezierte die Milz und den Dünndarm. Seine scheinbar endlosen Schlingen fühlten sich kühl und glitschig an. Magen, Bauchspeicheldrüse und Leber resezierte er in einem Block.
    Nirgends entdeckte er Anzeichen einer Peritonitis, nahm auch keinen Geruch anaerober Bakterien wahr. Das war das Schöne an der Arbeit an einem frischen Toten. Keine fauligen Gerüche, nur der von Blut, wie man ihn aus einer Metzgerei kannte.
    Auf dem Sezierbrett öffnete er den Magen. Er war leer.
    »Das Krankenhausessen wird ihm hochgekommen sein«, sagte Lisa.
    »Nach den Unterlagen konnte er gar nicht mehr essen.«
    Bisher hatte Dvorak auf den ersten Blick keinen Ansatzpunkt gefunden, der für die Todesursache in Frage kam.
    Er ging um den Tisch zum Kopfende, machte die Inzision in die Kopfschwarte und klappte sie wie eine Gummimaske über das Gesicht. Lisa hielt die Stryker-Säge schon bereit. Wortlos sahen sie zu, wie ihre Zähne in die Schädeldecke drangen.
    Dvorak hob das Schädeldach ab. Das Gehirn sah aus wie ein Klumpen sich schlängelnder Würmer unter der zarten meningealen Membran. Die Hirnhaut zeigte keine ungewöhnlichen Veränderungen, und somit sprach alles gegen eine Entzündung. Auch von einer epiduralen Blutung fand Dvorak keine Spur.
    Für eine genauere Untersuchung mußte das Gehirn herausgenommen werden. Er griff zum Skalpell und durchtrennte mit schnellen Schnitten Sehnerven und Blutgefäße. Als er tiefer ging, um das Gehirn vom Rückenmark zu trennen, spürte er plötzlich einen scharfen Schmerz.
    Sofort zog er die Hand heraus und sah den Schnitt im doppelten Handschuh. »Mist«, murmelte er und ging zum Waschbecken.
    »Was ist passiert?« fragte Lisa.
    »Habe mich geschnitten.«
    »Blutet es?«
    Dvorak zog beide Handschuhe aus und begutachtete seinen linken Mittelfinger. Ein dünner Faden Blut markierte den rasiermesserscharfen Schnitt. »Das Skalpell ist glatt durch

Weitere Kostenlose Bücher