Roter Engel
Tüpfelchen eines Zellkerns, war das hier ein einziger rot-weißer Schaum. Überall Vakuole, als hätten mikroskopisch kleine Motten Löcher in das Gehirn gefressen.
Langsam hob er den Kopf und betrachtete seine Finger – den, den er mit dem Skalpell verletzt hatte. Die Wunde war inzwischen verheilt, aber die dünne Linie auf der Haut war noch erkennbar, die Wunde gerade erst geschlossen.
Als das passierte, war ich gerade am Gehirn. Und ungeschützt.
Für eine genaue Diagnose mußten jetzt ein Neuropathologe hinzugezogen, die Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop verfeinert, die klinischen Daten abgeglichen werden.
Für die Vorbereitungen zu seiner eigenen Beerdigung war es nämlich noch zu früh.
Seine Hände waren schweißfeucht. Er klappte das Mikroskop hoch und atmete tief durch. Dann griff er zum Telefon.
Seine Sekretärin brauchte nur wenige Sekunden, dann hatte sie die Nummer von Toby Harper in Newton gewählt. Sechsmal ließ sie es läuten, bis sich eine ärgerliche Stimme meldete. »Hallo?«
»Dr. Harper? Hier ist Dan Dvorak von der Rechtsmedizin. Können wir kurz miteinander reden?«
»Die ganze Woche habe ich versucht, Sie zu erreichen.«
»Ich weiß«, gestand er. Eine glaubwürdige Entschuldigung fiel ihm nicht ein.
»Haben Sie inzwischen eine Diagnose im Fall Parmenter?« fragte sie.
»Deswegen rufe ich an. Ich brauche einige zusätzliche Informationen von Ihnen.«
»Sie haben doch seinen Krankenbericht, oder?«
»Ja, aber ich möchte mit Ihnen über die Dinge reden, die Sie seinerzeit in der Notaufnahme festgestellt haben. Ich bin noch bei der histologischen Auswertung. Was ich zusätzlich brauche, ist ein besseres klinisches Bild seines Zustands.«
Im Hintergrund hörte er so etwas wie Wasser aus einem Hahn laufen, und dann rief Toby: »Nein, dreh ab! Dreh ab, das Wasser ist schon überall auf dem Fußboden.« Der Hörer klapperte auf den Tisch, dann waren Schritte zu hören. Schließlich war sie wieder am Apparat. »Hören Sie, im Moment sieht es schlecht aus. Können wir uns nicht treffen und es miteinander besprechen?«
Er zögerte. »Das ist wohl die bessere Idee. Heute nachmittag?«
»Gut, heute abend habe ich frei. Aber ich muß erst sehen, daß ich einen Pfleger finde. Wann sind Sie mit Ihrer Arbeit fertig?«
»Ich bleibe immer so lange wie nötig.«
»Okay, ich versuche, um sechs bei Ihnen zu sein. Wo ist das noch?«
»720 Albany Street, gegenüber dem City Hospital. Das ist schon am Ende der Dienstzeit, und die Türen werden verschlossen sein. Parken Sie hinter dem Gebäude.«
»Ich weiß noch immer nicht, was da auf mich zukommt, Dr. Dvorak.«
»Das werden Sie schon sehen«, sagte er. »Wenn Sie sich erst einmal die Schnitte angeschaut haben.«
10
Es war fast halb sieben, als Toby den Parkplatz hinter dem zweigeschossigen Backsteingebäude Nr. 720 an der Albany Street erreichte. Sie fuhr an drei gleich aussehenden Vans, jeder mit der Aufschrift
Commonwealth of Massachusetts, Chief Medical Examiner
auf der Seite, vorbei und stellte ihren Wagen in der Nähe des Hintereingangs ab. Es hatte schon den ganzen Tag nach Regen ausgesehen, und nun fing es an. Die Tropfen glitzerten in der Dämmerung. Jetzt, im späten Oktober, setzte die Dunkelheit früh ein, und Toby vermißte bereits wieder die langen, dämmrigen Sommerabende. Das Haus wirkte wie ein dunkles Verlies, umgeben von einer roten Ziegelmauer.
Sie stieg aus und ging mit eingezogenem Kopf über den Platz.
Sie stand gerade vor der Tür, da ging sie auch schon auf. Überrascht hob sie den Kopf.
Vor ihr im Licht des Ganges stand die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes. »Dr. Harper?«
»Ja.«
»Ich bin Dan Dvorak. Gewöhnlich schließen sie die Türen um sechs, also habe ich auf Sie gewartet. Kommen Sie herein.«
Sie trat ein und wischte sich die Regentropfen vom Gesicht, blinzelte und sah Dr. Dvorak an. Nach der Stimme am Telefon hatte sie ihn sich irgendwie anders vorgestellt. Doch diese Gestalt hier war durchaus eindrucksvoll, und das versöhnte sie. Er hatte das Alter, das sie erwartet hatte, Mitte Vierzig, schwarzes Haar, silbergrau meliert, und ein wenig zerzaust, als wäre er nervös mit den Fingern hindurchgefahren. Seine Augen waren dunkelblau und sahen sie aus tiefen Höhlen an. Er begrüßte sie zwar mit einem Lächeln auf den Lippen, doch es wirkte irgendwie gezwungen. Es zuckte nur einmal kurz auf, durchaus freundlich, wich aber gleich wieder einem Gesichtsausdruck, den sie nicht recht
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