Roter Engel
seinem Haus. Er meinte wohl seine Enkelinnen. Sie sind um die zehn.«
»Okay, er hatte also Sehstörungen und zerebelläre Symptome.«
»Und dann hatte er diese Anfälle.«
»Ja, die erwähnen Sie in Ihrem Notaufnahmeprotokoll.« Er griff nach einem Ordner auf seinem Schreibtisch und klappte ihn auf. Er enthielt die Kopien des Krankenberichts aus dem Springer Hospital. »Sie stellten einen fokal bedingten Anfall der oberen Extremitäten rechts fest.«
»Die Anfälle traten unregelmäßig während seines ganzen Krankenhausaufenthalts auf, trotz der Verabreichung von Antikonvulsiva. Das weiß ich von den Schwestern.«
Er blätterte im Bericht. »Wallenberg erwähnt sie kaum. Aber hier sehe ich, daß Dilantin verordnet wurde, von ihm abgezeichnet.« Er sah sie an. »Offensichtlich stimmt, was Sie über die Anfälle sagen.«
Warum sollte es auch nicht?
dachte sie und ärgerte sich plötzlich. Jetzt war sie es, die sich vorbeugte. »Warum sagen Sie mir nicht einfach, auf welche Diagnose Sie abzielen?«
»Ich möchte Sie nicht beeinflussen, was Ihre Erinnerung an diesen Fall angeht. Ich benötige Ihre unvoreingenommene Schilderung der Abläufe.«
»Je direkter Sie mich fragen, desto mehr Zeit sparen wir uns beide.«
»Sind Sie unter Zeitdruck?«
»Das ist heute mein freier Abend, Dr. Dvorak. Ich könnte jetzt daheim sein und andere Dinge erledigen.«
Er sah sie einen Augenblick lang schweigend an. Dann lehnte er sich zurück und gab einen tiefen Seufzer von sich. »Na gut, es tut mir leid, daß ich Ihnen so ausweiche, aber diese Geschichte macht mir ein bißchen zu schaffen.«
»Warum?«
»Ich glaube, wir haben es mit einer Infektion zu tun.«
»Bakteriell oder viral?«
»Weder noch.«
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Was dann? Handelt es sich um Parasiten?«
Er stand auf. »Gehen wir ins Labor. Ich zeige Ihnen die Schnitte.«
Sie fuhren mit dem Aufzug in den Keller und traten in einen leeren Gang hinaus. Es war jetzt nach sieben. Sie wußte, jemand mußte im Leichenschauhaus Dienst haben, aber jetzt, während sie mit Dr. Dvorak durch den stillen Flur ging, kam es ihr vor, als wären sie beide vollkommen allein in dem Gebäude. Er ging vor ihr in das Labor und schaltete die Beleuchtung ein.
Das harte Neonlicht wurde von den spiegelnden Kachelwänden zurückgeworfen. Im Raum befanden sich ein Kühlschrank, an der Wand ein Waschbecken aus Edelstahl, ein Tisch mit dem Material für quantitative Analysen und daneben ein Computer-Terminal. In einem Regal standen Behälter mit menschlichen Organen im Formalinbad. Der Geruch von Formalin hing in der Luft.
Er trat an ein Mikroskop und schaltete die Beleuchtung ein. Es war ein Mikroskop für Lehrzwecke, durch das man die Proben zu zweit begutachten konnte. Er schob einen Objektträger unter das Objektiv, setzte sich und stellte es scharf ein. »Sehen Sie mal.«
Sie zog einen Stuhl heran, beugte sich nah zu ihm und schaute durch ihr Okular. Sie sah etwas, das aussah wie weiße Bläschen in einem violettroten See.
»Es ist lange her, daß ich im Histologiekurs gesessen habe«, gestand sie. »Geben Sie mir einen Hinweis.«
»Okay. Können Sie das Gewebe identifizieren, das wir hier vor uns haben?«
Sie wurde vor Verlegenheit rot. Wenn sie die Antwort jetzt doch nur aus dem Ärmel schütteln könnte. Statt dessen wurde ihr schmerzlich bewußt, daß sie keine Ahnung hatte. Auch das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, empfand sie jetzt als schmerzhaft. Mit den Augen über dem Okular sagte sie: »Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich kann es nicht bestimmen.«
»Das sagt nichts über die Qualität Ihrer Ausbildung, Dr. Harper. Was Sie da sehen, ist ein so anomales Gewebe, daß es tatsächlich nur schwer zuzuordnen ist. Was wir hier sehen, ist ein Schnitt von Angus Parmenters Großhirnrinde in PAS-Färbung. Das Neuropilem ist pinkfarben, das Rote sind die Zellen.«
»Und was bedeuten all die Vakuole?«
»Genau das habe ich mich auch gefragt. In einer normalen Rinde gibt es diese winzigen Löcher nicht.«
»Eigentümlich. Sieht aus wie mein pinkfarbener Küchenschwamm.«
Er gab keine Antwort. Irritiert schaute sie hoch und stellte fest, daß er sie ansah. »Dr. Dvorak?«
»Stimmt genau«, murmelte er.
»Was?«
»Genauso sieht es aus.
Ein pinkfarbener Schwamm.
« Er lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Im scharfen Laborlicht sah sie die Müdigkeitsfalten in seinem Gesicht und den dunklen Bartschatten. »Ich glaube, wir haben es mit
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