Roter Engel
das Mikroskop, als wäre es sein Todfeind. »Ich hielt gerade das Gehirn mit meinen Händen umfaßt. Einen schlechteren Moment, mich zu schneiden, konnte ich mir gar nicht wählen.«
»Es bedeutet nicht, daß Sie sich dabei infiziert haben. Die Gefahr, daß Sie jetzt tatsächlich auch erkranken, ist extrem gering.«
»Aber sie existiert. Die Gefahr ist noch vorhanden.« Er sah sie an, und sie konnte nicht widersprechen. Auch fand sie keine beruhigenden Worte, die ohnehin falsch gewesen wären.
Schweigen war jetzt das Ehrlichste.
Er schaltete die Mikroskopbeleuchtung aus. »Creutzfeldt-Jakob hat eine lange Inkubationszeit. Es wird ein Jahr dauern, bis ich es weiß. Vielleicht sogar fünf Jahre. Ich werde dasitzen, mich beobachten, auf die ersten Anzeichen warten. Wenigstens ist es ein relativ schmerzloser Tod. Es fängt an mit einer Demenz. Sehstörungen, vielleicht Halluzinationen. Dann schreitet man fort bis ins Delirium, und am Ende fällt man in ein Koma …« Er zuckte müde mit den Schultern. »Ich glaube, es ist besser, als an Krebs zu sterben.«
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Und ich bin daran schuld …«
»Wieso?«
»Ich habe auf einer Autopsie bestanden. Damit habe ich Sie in diese gefährliche Lage gebracht.«
»Dafür bin ich selbst verantwortlich. Wir beide, Dr. Harper, haben unsere Verantwortung. Die bringt unser Job so mit sich.
Sie arbeiten in der Notaufnahme, jemand kommt herein und hustet Sie an, und Sie bekommen Tb. Oder Sie stechen sich mit einer Nadel und fangen sich eine Hepatitis ein oder Aids.« Er nahm den Objektträger und legte ihn auf das Tablett. Dann zog er den Plastikschutz über das Mikroskop. »In jedem Job lauern Gefahren. Es kann schon gefährlich werden, wenn man morgens nur aufsteht. Zur Arbeit fährt, zum Briefkasten geht. In ein Flugzeug steigt.« Er sah sie an. »Daß wir sterblich sind, ist ja alles andere als überraschend. Die Überraschung liegt darin, wie und wann wir sterben.«
»Im derzeitigen Stadium könnte es die Möglichkeit geben, die Infektion noch zu stoppen. Vielleicht mit einer Gabe Immunoglobulin …«
»Das bringt nichts. Ich habe es schon nachgeschlagen.«
»Haben Sie mit Ihrem Arzt darüber gesprochen?«
»Bisher habe ich es noch niemandem gegenüber erwähnt.«
»Nicht einmal gegenüber Ihrer Familie?«
»Es gibt nur meinen Sohn Patrick, und der ist erst vierzehn. In dem Alter hat er genug andere Dinge, über die er sich Sorgen macht.«
Sie dachte an das Foto auf dem Schreibtisch, die strähnigen Haare, die Riesenforelle. Dvorak hatte recht: Ein vierzehnjähriger Junge war zu jung, um mit der Sterblichkeit seiner Eltern konfrontiert zu werden.
»Was haben Sie also vor?« fragte sie.
»Mich vergewissern, daß meine Lebensversicherungsprämie auch bezahlt ist. Und das Beste hoffen.« Er stand auf und ging zum Lichtschalter. »Mehr kann ich nicht tun.«
Robbie Brace kam im Red-Sox-T-Shirt und schäbiger Trainingshose an die Tür. »Dr. Harper«, sagte er. »Das ging aber schnell.«
»Danke, daß Sie sich mit mir treffen.«
»Na, Sie überfallen uns ja nicht gerade in unser heiligsten Stunde. Der im Bett nämlich, wissen Sie? Statt dessen ist noch großes Feilschen und Jammern angesagt.«
Toby trat ins Haus. Weiter oben heulte ein Kind. Nicht im weinerlichen Ton, sondern wütend, begleitet von stampfenden Füßen und dem Scheppern von etwas, das auf den Boden geschleudert wurde.
»Drei Jahre alt sind wir jetzt und lernen gerade, was Durchsetzungsvermögen ist«, erklärte Brace. »Ist das nicht schön – Kinder zu haben?« Er ließ die Haustür angelehnt und bat sie ins Wohnzimmer. Wieder war sie von seiner Größe beeindruckt und von seinen Armen, die so muskelbepackt waren, daß er sie nicht einmal gerade herunterhängen lassen konnte. Sie nahm auf einer Couch, er in einem durchgesessenen Lehnstuhl Platz.
Oben ging das Geschrei weiter, wurde heiserer, hin und wieder von lautem Schluchzen unterbrochen. Dazwischen hörte man eine weibliche Stimme, ruhig, aber bestimmt.
»Ein Kampf der Titanen«, sagte Brace mit einem Blick nach oben. »Meine Frau hält so etwas viel besser durch als ich. Ich rolle mich immer einfach zur Seite und stelle mich tot.« Er sah Toby an, und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht.
»Also, was ist nun mit Angus Parmenter?«
»Ich komme gerade aus der Rechtsmedizin. Sie haben eine vorläufige Diagnose: Creutzfeldt-Jakob.«
Brace schüttelte verwundert den Kopf. »Sind Sie sicher?«
»Die
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