Roter Engel
Ängste er haben mußte. Sie sah, daß er schlecht geschlafen hatte. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, wirkten fiebrig.
»Das ist eben etwas, womit ich leben muß«, sagte er. »Mit der Möglichkeit, krank zu werden. Nicht zu wissen, ob ich nun noch zwei oder noch einmal vierzig Jahre leben werde. Ich sage mir immer wieder, ich könnte ja auch auf die Straße gehen und von einem Bus überfahren werden. So ist das Leben. Jeder Tag birgt ein Lebensrisiko.« Er reckte sich, als wolle er diese Stimmung abstreifen. Dann sagte er mit einem unerwarteten Lächeln: »Nicht, daß ich ein so aufregendes Leben hätte.«
»Aber ich hoffe, es dauert doch noch lange.«
Beide standen auf und schüttelten sich die Hände, unter Freunden eine zu formell wirkende Geste. Aus ihrer Beziehung war noch keine Freundschaft geworden. Doch sie hatte das Gefühl, sie entwickle sich in diese Richtung. Was sie sich wünschte. Als sie ihn jetzt ansah, verwirrte sie dieses plötzliche Gefühl, von ihm angezogen zu sein, und ihre Erwiderung seines warmen Händedrucks.
»Vorgestern abend«, sagte er, »haben Sie mich zu einem Glas Brandy eingeladen.«
»Ja.«
»Ich bin darauf nicht eingegangen, weil ich – also, ich war noch zu geschockt von der Diagnose. Es hätte uns beiden den Abend ruiniert.«
Sie erinnerte sich, wie sie die Nacht verbracht hatte, allein auf ihrem Sofa, deprimiert, sich mit medizinischen Zeitschriften beschäftigend, während der romantische Mendelssohn aus der Stereoanlage geklungen hatte.
Den Abend hättest du kaum noch ruinieren können,
dachte sie.
»Jedenfalls habe ich überlegt«, sagte er, »ob ich mich dafür nicht revanchieren könnte. Es ist fast Mittag. Ich bin schon den ganzen Vormittag hier und kann es plötzlich kaum erwarten, dieses verdammte Gebäude zu verlassen. Wenn Sie Zeit haben – und Lust …«
»Sie meinen … jetzt?«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie sah ihn einen Augenblick an und überlegte, wie sehr sie wohl darauf gewartet hatte, daß es passierte, und hatte gleichzeitig Angst, zuviel in seine Einladung hineinzulegen.
Er schien ihr Zögern als mangelnde Begeisterung zu interpretieren. »Es tut mir leid. Das kommt ein wenig Hals über Kopf. Vielleicht ein andermal.«
»Ja. Ich meine, nein. Jetzt paßt es mir gut«, sagte sie schnell.
»Wirklich?«
»Unter einer Bedingung, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er hielt den Kopf schief und wußte nicht recht, was jetzt kam.
»Könnten wir uns eine Weile in den Park setzen?« fragte sie sehnsüchtig. »Ich weiß, es ist ein bißchen frisch draußen, aber ich habe seit einer Woche die Sonne nicht mehr gesehen. Und ich würde sie jetzt wirklich eine Weile auf meinem Gesicht genießen.«
»Wissen Sie was? Mir geht es genauso.« Er lächelte. »Ich hole schnell meinen Mantel.«
14
Sie saßen, warme Schals um den Hals, nah beieinander auf einer Parkbank und aßen dampfende Pizza direkt aus dem Pappkarton. Belegt war sie mit Thai-Hühnchen und Erdnußsauce, zufällig seine und auch ihre Lieblingspizza. »Große Geister korrespondieren auf gleicher Ebene«, hatte Dvorak gesagt und dazu gelacht, als sie unter den nun laublosen Bäumen zu dieser Bank am Teich gegangen waren. Der Wind war zwar kalt, doch die Sonne schien von einem hellen und klaren Himmel.
Das hier ist nicht derselbe Mann, dachte Toby und betrachtete Dvoraks Gesicht mit den zerzausten Haaren in der Stirn und den vom Wind geröteten Wangen. Hol ihn heraus aus diesem deprimiert machenden Haus, weg von seinen Leichen, und er wird ein ganz anderer Mensch. Einer mit lachenden Augen. Ob sie selbst auch so anders aussah? Der Wind hatte ihr Haar in alle Richtungen gezerrt, und ihre Finger klebten von der Pizza, doch gerade jetzt fühlte sie sich attraktiv wie lange nicht mehr.
Vielleicht hatte es damit zu tun, wie er sie ansah. Was läßt einen schöner erscheinen als der lächelnde Blick eines begehrenswerten Mannes? dachte sie.
Sie sah zu ihm hoch und genoß den hellen Tag. »Ich hatte fast vergessen, wie wohl man sich in der Sonne fühlen kann.«
»Ist es so lange her, daß Sie sie gesehen haben?«
»Mir kommt es vor, als wären es Wochen gewesen. Zuerst hatten wir die ganze Zeit diesen Regen. Und die paar Sonnentage, die dann kamen, habe ich verschlafen.«
»Warum haben Sie sich dann für die Nachtschicht entschieden?«
Sie kaute ihren letzten Bissen Pizza und leckte hinge-bungsvoll die Sauce von den Fingern. »Anfangs hatte ich gar keine andere Wahl. Als ich meine
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