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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Assistenzzeit hinter mir hatte, war das der einzige freie Termin im Springer. Zuerst war es auch eine sehr sinnvolle Sache. In der Notaufnahme wird es nach Mitternacht gewöhnlich ruhig, und manchmal konnte ich da sogar ein paar Stunden schlafen. Dann fuhr ich nach Hause, hängte noch ein längeres Nickerchen an und hatte den restlichen Tag ganz zu meiner Verfügung.« Sie schüttelte den Kopf beim Gedanken daran. »Das war vor zehn Jahren. Wenn man noch keine dreißig ist, kommt man schon mit extrem wenig Schlaf aus.«
    »Die mittleren Jahre sind schon die Pest.«
    »Aha, die ›mittleren Jahre‹ … Reden wir da von uns selbst?«
    Er lachte und zwinkerte in die Sonne. »Und Sie sind nun zehn Jahre älter und eine alte Dame geworden, nicht? Schon in den Dreißigern? Und da arbeiten Sie immer noch in der Friedhofs-Zulieferschicht.«
    »Mit der Zeit wurde es da richtig gemütlich. Man arbeitet immer mit denselben Schwestern zusammen. Leuten, denen man vertrauen kann.« Sie seufzte. »Dann wurde der Alzheimer meiner Mom immer schlimmer. Da erschien es mir wichtig, tagsüber daheim zu sein. Für sie dazusein. Darum habe ich mir jemanden gesucht, der nachts bei uns im Haus schläft. Morgens komme ich dann nach Hause und übernehme den Dienst.«
    »Hört sich an, als würden Sie die Kerze von beiden Seiten her brennen lassen.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Eine vernünftige Alternative dazu gibt es nicht, oder? Im Ernst, ich bin glücklich. Zumindest kann ich es mir leisten, eine Hilfe einzustellen und selber weiterzuarbeiten, im Unterschied zu so vielen anderen Frauen. Und meine Mutter hört – selbst jetzt, wo sie enorm anstrengend geworden ist – nie auf …« Sie unterbrach sich selbst und suchte nach dem einen Wort, das das Wesentliche an Ellen auf den Begriff brachte. »Liebenswert«, sagte sie. »Meine Mutter hat nie aufgehört, liebenswert zu sein.«
    Ihre Blicken trafen sich. Sie zitterte, als ein kalter Windstoß über den Teich fuhr und die nackten Zweige über ihnen schüttelte.
    »Ich habe das Gefühl, Sie ähneln Ihrer Mutter sehr«, sagte er.
    »In puncto Liebenswürdigkeit? Nein. Ich wünschte, ich hätte mehr davon.« Sie sah auf den Teich, auf dessen Oberfläche kleine Wellen tanzten. »Ich glaube, ich bin zu ungeduldig. Zu angespannt, um liebenswürdig zu sein.«
    »Ja, angespannt und heftig sind Sie, Dr. Harper. Ich weiß das von unserem ersten Gespräch her. Und ich kann jede Gefühlsregung sehen, die über Ihr Gesicht fährt.«
    »Macht ganz schön angst, nicht?«
    »Tut aber bestimmt der Seele wohl. Jedenfalls kommt es so aus einem heraus. Offen gestanden könnte ich auch etwas von dem gebrauchen, was Sie da haben.«
    »Und ich«, gab sie zerknirscht zurück, »etwas von Ihrer Reserve.«
    Der letzte Rest Pizza war verzehrt. Sie warfen die Verpackung in den Abfallkorb und gingen los. Dvorak schien von der Kühle nichts zu spüren. Er spazierte lockeren Schritts mit offenem Mantel neben ihr, der Schal hing nur noch lässig über seiner Schulter.
    »Ich glaube nicht, jemals einen Pathologen kennengelernt zu haben, der sich nicht reserviert gab«, sagte sie. »Seid ihr nicht auch alle gute Pokerspieler?«
    »Heißt das, unser Temperament ist so etwas wie ein Grenzfall von Apathie?«
    »Die, die ich kenne, erscheinen mir jedenfalls als allzu ruhige Zeitgenossen. Aber auch als kompetent, als wüßten sie auf alles eine Antwort.«
    »Das tun wir.«
    Sie sah sein ausdrucksloses Gesicht und lachte. »Gut gekontert, Dan. Sie haben mich überzeugt.«
    »Das wird Ihnen in der Pathologie regelrecht beigebracht. Wie man immer einen intelligenten Eindruck macht. Und die, die dabei durchfallen, werden dann Chirurgen.«
    Sie warf den Kopf zurück und mußte noch lauter lachen.
    »Trotzdem stimmt das, was Sie sagen«, gab er zu. »Die Ruhigen gehen in die Pathologie. Sie zieht Leute an, die gern im Keller arbeiten. Die lieber durch Mikroskope schauen, als mit lebendigen Menschen zu reden.«
    »Trifft das auf Sie zu?«
    »Da muß ich ja sagen. Ich kann nicht gut mit Menschen umgehen, habe zu wenig Erfahrung. Was wohl auch erklärt, warum ich geschieden bin.«
    Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Der Wind hatte ein paar Wolken vor sich hergetrieben, und sie wanderten jetzt mal in der Sonne, mal im Schatten.
    »War sie auch Ärztin?« fragte Toby.
    »Pathologin wie ich. Eine ganz hervorragende, aber auch sehr reserviert. Ich habe ihr nicht einmal angemerkt, daß zwischen uns etwas nicht mehr stimmte. Bis sie

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