Roter Engel
hatte.
Ein Windstoß erfaßte ihren Wagen. Der Motor war schon aus, also auch keine Heizung mehr an, und sie begann zu frieren.
Die Kälte trieb sie schließlich aus dem Wagen und ins Haus. Kaffeegeruch wehte ihr entgegen, und willkommenes Geklapper von Geschirr begrüßte sie aus der Küche. »Ich bin wieder da«, rief sie und hängte ihre Jacke in den Garderobenschrank.
Jane erschien in der Küchentür und lächelte ihr freundlich zu. »Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt – mögen Sie eine Tasse?«
»Ich würde gerne, aber dann könnte ich nicht mehr schlafen.«
»Ach, es ist entkoffeinierter. Ich habe mir schon gedacht, daß Sie keinen richtigen wollen.«
Toby lächelte. »In dem Fall hätte ich gerne eine Tasse.«
Blasses Sonnenlicht fiel durch das Fenster herein, als sie am Küchentisch saßen und ihren Kaffee tranken. Ellen war noch nicht wach, und Toby hatte fast Schuldgefühle, daß sie so froh über diesen Aufschub war und diesen friedvollen Augenblick so genoß. Sie lehnte sich zurück und sog den Geruch ein, der aus ihrer Tasse aufstieg. »Himmlisch«, sagte sie.
»In Wirklichkeit nur ein paar geröstete Bohnen aus Kolumbien.«
»Ja, aber ich brauchte sie nicht zu mahlen und nicht einmal einzugießen. Ich darf hier einfach nur sitzen und ihn trinken.«
Jane schüttelte mitfühlend den Kopf. »Hört sich an, als hätten Sie eine schlimme Nacht hinter sich.«
»So schlimm, daß ich nicht einmal darüber reden möchte.«
Toby stellte die Tasse ab und rieb sich das Gesicht. »Und wie war die Nacht bei Ihnen?«
»Ein bißchen chaotisch. Ihre Mutter konnte nicht einschlafen. Sie ist immer wieder aufgestanden und durch das Haus gewandert.«
»Ach. Und warum?«
»Sie sagte, sie müsse Sie von der Schule abholen. Also suchte sie überall nach den Wagenschlüsseln.«
»Sie ist seit Jahren nicht mehr Auto gefahren. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieso sie gerade jetzt auf die Suche nach den Schlüsseln ging.«
»Na ja, es schien ihr sehr wichtig, daß Sie nicht vor der Schule auf sie warten sollten, und machte sich Sorgen, Sie würden sich erkälten.« Jane lächelte. »Als ich sie fragte, wie alt Sie denn seien, sagte sie elf.«
Elf,
dachte Toby.
Das war das Jahr, in dem Dad gestorben ist. Das Jahr, in dem alles auf Moms Schultern geladen wurde.
Jane stand vom Tisch auf und wusch ihre Tasse im Spülbecken aus. »Ich habe ihr gestern abend schon ein Bad eingelassen. Sie müssen sich damit also nicht aufhalten. Außerdem haben wir um Mitternacht einen kräftigen Imbiß genommen. Ich glaube, sie wird noch eine Weile im Bett bleiben. Vielleicht den ganzen Tag.«
Sie stellte die Tasse auf das Abtropfgestell und drehte sich zu Toby herum. »Sie muß eine wunderbare Mutter gewesen sein.«
»Das war sie«, murmelte Toby.
»Dann haben Sie Glück gehabt. Mehr Glück als ich …« Jane senkte traurig den Blick. »Aber wir können ja nicht alle die Eltern haben, die wir uns wünschen, oder?« Sie holte Luft, als wolle sie noch etwas sagen, lächelte dann aber nur und griff nach ihrer Handtasche. »Bis morgen also.«
Toby hörte sie aus dem Haus gehen und die Haustür hinter sich zuziehen. Ohne Jane schien ihr die Küche jetzt leer. Leblos. Sie stand auf und ging durch den Flur zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Durch den Türspalt sah sie, daß Ellen schlief. Leise ging sie hinein und setzte sich auf das Bett.
»Mom?«
Ellen rollte sich auf den Rücken. Langsam öffnete sie die Augen und sah Toby an.
»Mom, geht es dir gut?«
»Müde«, murmelte Ellen. »Bin müde heute.«
Toby legte die Hand auf Ellens Stirn. Kein Fieber. Sie strich eine graue Strähne aus dem Auge ihrer Mutter. »Du bist doch nicht krank?«
»Ich möchte nur schlafen.«
»Okay.« Toby gab Ellen einen Kuß auf die Wange. »Dann schlaf. Ich gehe jetzt auch ins Bett.«
»Gute Nacht.«
Toby ging hinaus und ließ Ellens Tür angelehnt. Auch ihre eigene Schlafzimmertür würde sie offenstehen lassen, damit sie ihre Mutter rufen hören konnte. Sie ging unter die Dusche und zog ein T-Shirt an, ihr übliches Nachtgewand. Als sie sich auf ihr Bett setzte, läutete das Telefon.
Sie hob ab. »Hallo?«
Eine männliche Stimme, die ihr bekannt vorkam, sagte: »Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«
Die Unverblümtheit, mit der er das sagte, ärgerte sie. »Wenn Sie nicht wissen, wessen Nummer Sie gewählt haben, ist das Ihr Problem. Auf Wiedersehen.«
»Warten Sie. Detective Sheehan am Apparat, vom Boston Police Department. Ich versuche
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