Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Herbst - Kriminalroman

Roter Herbst - Kriminalroman

Titel: Roter Herbst - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
Vom Netzwerk:
Ob sie wohl krank wurde? Schon als Kind hatte sie sich im Frühjahr regelmäßig eine Erkältung eingefangen. Das war wie ein Naturgesetz gewesen …
    Sie hob den Kopf, blickte geradeaus. Bis zur U-Bahn-Station war es nicht mehr weit, sie konnte in einiger Entfernung bereits das weiße U auf blauem Grund erkennen. Dann ging sie weiter. Sie schlängelte sich durch die Reihe der dicht geparkten Autos und überquerte die Straße. Ein Mann überholte sie, als sie die andere Seite erreicht hatte. Er ging an ihr vorbei, drehte dabei den Kopf in ihre Richtung und blickte sie kurz an. Ihre Augen trafen sich. Wie es schien, lächelte er.
    Warum er sie nur so anblickte? Ob er sie wohl kannte? Vielleicht einer ihrer Kunden von früher? Von früher. Von früher … von früher … von früher … Die Lichter der Autos huschten in dem ewig gleichen Rhythmus vorbei, in kurzen Abständen, nahezu ohne Pause, trafen auf ihre Pupillen, die deswegen klein geworden waren, blendeten sie, sodass sie weniger wahrnehmen konnte von den Menschen, die um sie herum waren, und sie der Finsternis nahe kam. Früher … Wie lange das schon her war. An die 25 Jahre sicher. Oder noch länger? Eine halbe Ewigkeit auf jeden Fall. Damals hatte die Müdigkeit die Oberhand gewonnen und da war es vorbei gewesen mit dem Anschaffen im Bordell. Von einem Tag auf den anderen. Die Männer, die in den ›Leierkasten‹ gekommen waren, hatten von heute auf morgen nichts mehr von ihr und ihrem müden Körper, den schlaffen Brüsten, dem trockenen Schoß, dem ständigen Gähnen, gewollt. Sie hatte den Ekel in ihren Augen erkannt, wenn sie sich ihnen angeboten hatte, hatte das schiefe Grinsen wahrgenommen, wenn sie den Kopf schüttelten … Nur Otto war ihr geblieben. Otto, der bei seinen Hunden geschlafen und aufgepasst hatte, dass sich die Freier nicht zu viel herausnahmen. Er hatte dafür gesorgt, dass sie hatte bleiben können, dass sie nicht wie die anderen, die aussortiert wurden, auf dem Straßenstrich gelandet war. Nur nicht zu den Nutten an der Ingolstädter Landstraße, hatte sie sich geschworen. Damals hatte sie angefangen, die Handtücher in den Zimmern der Mädchen zu wechseln, die Bettlaken nach jedem der Freier zu erneuern und die Kondome, die die Männer zurückließen, zu entfernen. Das war ihr neues Leben geworden. Früher … früher … früher …
    Der Mann, der ihr zugelächelt hatte, war weitergeeilt, hatte sich nicht mehr umgedreht. Eigentlich schade, dachte sie. Er hatte ausgesehen wie ein Amerikaner. Das merkte man sofort. Nicht nur am Kaugummi. Einen Moment später war er über die Treppe in die U-Bahn hinunter verschwunden. Wenig später folgte sie ihm. Als sie auf der Rolltreppe stand und in die Tiefe glitt, beruhigte sich ihr Atem allmählich. Aber ihre Gedanken hörten nicht auf, zu wandern …
    Sie dachte an den Brief zurück, der vor zwei Tagen gekommen war. Ohne Absender. Ein Luftpostbrief, abgestempelt in den USA. Zunächst hatte sie den Stempel nicht entziffern können. Erst als sie eine Lupe zu Hilfe genommen hatte, hatte sie die verwischte Aufschrift lesen können. ›Seattle SeaTac‹. Da hatte sie den Brief aber schon längst geöffnet gehabt. Sie kannte niemanden, der in Seattle wohnte. Und doch hatte sie schon im ersten Augenblick gewusst, von wem der Brief stammte. Noch bevor sie den kleinen Zettel aus dem Umschlag genommen hatte. Eigentlich war es kein Brief gewesen, nur eine Notiz, auf einem Computer geschrieben. ›Möchte dich sehen. H.‹
    Sie hatte die wenigen Worte mehr als ein dutzend Mal gelesen, so als müsste sie ein Gedicht auswendig lernen, dann hatte sie die Notiz und den Umschlag, in dem sie gesteckt hatte, in Stücke gerissen und im Klo weggespült.
    ›Möchte dich sehen. H.‹ Nach all den Jahren. ›Möchte dich sehen …‹
    Verdammt, hatte sie gedacht. Sie wollte ihn aber nicht sehen, das verdammte Arschloch.
    Dann hatte sie sich auf einen der harten Stühle in der winzigen Kochnische gesetzt und angefangen, zu weinen. Sie hatte die Beine nahe an sich herangezogen und hochgenommen und sie mit beiden Armen umschlungen, hatte sich so klein gemacht, wie sie das nur hatte können. Wie eine Zecke, die den Unbillen der Natur trotzte. Erst nach mindestens zehn Minuten hatten die Stöße, die irgendwo tief aus ihrem Inneren gekommen waren, aufgehört, ihren Körper zum Beben zu bringen. Wie ein Schluckauf, der plötzlich vorüberging.
    Dann hatte sie kurz und laut gelacht. Wie er jetzt wohl aussah,

Weitere Kostenlose Bücher