Roter Herbst - Kriminalroman
die Tiere sie anstarrten. Als wollten sie sie jeden Moment zerfleischen.
Otto musste mindestens eine Minute hinter ihr gestanden haben, bevor sie ihn wahrnahm. Sein Bauch wölbte sich über seinen Gürtel, und sie bemerkte, dass sein Unterhemd nur bis zum Nabel reichte. »Hast du wieder Angst?«, fragte er sie.
»Lass mich«, sagte sie. »Du bist besoffen.«
Er kicherte, und sie sah, wie dabei ein dünner Speichelfaden aus seinem Mundwinkel tropfte. Sie wandte sich ab, wollte endlich zu ihrem Spind, sich umziehen. Sie war so verdammt müde. Es war ihr egal, ob er sie dabei beobachten würde. Plötzlich stand er direkt hinter ihr. Sie roch den scharfen Alkohol in seinem Atem, dazu ein säuerliches Gemisch aus Knoblauch und unverdautem Fleisch, als er aufstieß. Seine derben Hände legten sich auf ihren Hintern und sie ließ es geschehen. Sie beugte sich sogar nach vorn, wartete, dass es vorübergehen würde. Er kicherte die ganze Zeit, während er sie ohne Gefühl kniff und seine groben Finger spielen ließ, bis ihr schließlich die Tränen in die Augen stiegen. Ehe er von ihr abließ, klatschte er ihr mehrere Male die flache Hand auf das Hinterteil. Da fing sie an zu weinen.
Als sie damals nach München gekommen war, war der ›Leierkasten‹ in der Ingolstädter Straße noch ein ganz normaler Puff gewesen. Nicht so mondän wie in den vergangenen Jahren, seit er zu einem Laufhaus umgebaut worden war. Da hatte es nicht diese vielen schrägen Vögel gegeben wie heute, dachte sie. All die Perversen. Es war einfach ein Bordell gewesen, mit gewöhnlichen Kunden, die ihren sexuellen Hunger eben auf diese eine, klägliche Weise zu stillen wussten, die bereit waren, 100 Mark oder auch ein bisschen mehr für eine armselige Nummer, eine kurze, hastige Erleichterung, hinzulegen, um dabei einen Moment ihre Erbärmlichkeit zu vergessen.
Manchmal, wenn sie an die Jahre zurückdachte, wenn die Erinnerung sie einholte, da ging es ihr durch den Kopf, dass es eigentlich trotz allem ein guter Arbeitsplatz für die Mädchen war. Die Huren arbeiteten in verschiedenen Schichten, und wenn sie sich nicht gerade mit einem Freier in die beiden oberen Stockwerke zurückzogen, waren sie angehalten, sich in der schummrigen Bar im Erdgeschoss aufzuhalten, in der die Kunden herumstanden und herumsaßen, sich an ihren Gläsern festhielten und das Angebot an aufreizend dargebotenem Fleisch sondierten. Meist liefen die Schichten ohne große Zwischenfälle ab und nur manchmal fingen einige Freier an zu krakeelen. Wenn es zu schlimm war, hatte Otto die Hunde geholt. Fast immer hatte es genügt, wenn deren Bellen und Knurren aus den hinteren Räumen zu hören war …
Manchmal war sie damals schon so schrecklich müde, so wie heute. Aber das gedämpfte Licht und die schwere Musik wischten diese Müdigkeit meist weg. Schlimm war es für sie nur, wenn sie an die Stange musste. Warum das so war, konnte sie nie so recht sagen. Die Zeiten jedenfalls, zu denen die Mädchen tanzen mussten, die Reihenfolge, waren in jenen Tagen mit buchhalterischer Pedanterie festgelegt. Wenn sich eine nicht daran hielt, setzte es empfindliche Strafen. Weder sie noch die anderen Mädchen stellte das jemals infrage. Es war wie in den meisten Berufen – man gewöhnte sich an bestimmte Regeln und versuchte, damit klarzukommen. Ganz einfach.
Dennoch, am Anfang, gleich nachdem sie aus Berlin gekommen war, war es ihr schlecht gegangen. Sie hatte viel geweint und manchmal hatte sie daran gedacht, mit all der Scheiße ein Ende zu machen. Aber dann hatte sie irgendwie den Zeitpunkt dafür verpasst und es war ihr klar geworden, dass man es sich selbst in der Scheiße recht gut einrichten konnte. Man musste nur bereit sein, zu vergessen …
Sie hatte den Mantel aufgeknöpft und sog die kalte Luft des späten Aprilabends ein. Ihre Müdigkeit war etwas verflogen, sodass sie sich besser fühlte als noch vor wenigen Minuten. Dennoch kriegte sie die innere Verlorenheit nicht aus sich heraus. Dazu hatte sie Schmerzen im Schritt, dort, wo sie noch immer Ottos grobe Finger spürte, die sie malträtiert hatten. Diese Drecksau, dachte sie. Diese verfluchte Drecksau!
An der Kreuzung zum Frankfurter Ring blieb sie stehen. Plötzlich spürte sie ihren Atem, der schwer und gepresst aus ihrem Rachen kam und mit einem Mal ihren Gaumen trocken werden ließ. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und versuchte, durch die Nase zu atmen. Sofort hatte sie das Gefühl als müsse sie ersticken.
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