Roter Herbst - Kriminalroman
hatte sie gedacht. Nach der langen Zeit. Er war mittlerweile ein alter Mann. 71 musste er sein. Sie konnte sich das aber nicht so recht vorstellen. Für sie war er noch immer so jung wie damals, als er gegangen war. Damals. Wie lange das mittlerweile schon her war. All die Jahre hatte sie ja geglaubt, etwas sei ihm zugestoßen. Dass er tot sei. Wie vom Erdboden war er verschluckt gewesen … Und dann war vorgestern dieser Brief gekommen.
Die Rolltreppe ruckelte, als sie unten ankam, und sie wäre beinahe gestürzt. Zu viel, was einem durch den Kopf geht. Sie blickte nach vorn. Am Bahnsteig warteten nur wenige Menschen. Meist Männer, kaum Frauen. Sie ging einige Schritte, blickte zum anderen Ende des Bahnsteigs, dann schlenderte sie etwas zögerlich ein Stück weiter, während sie auf die Anzeigentafel starrte. Um diese Tageszeit fuhren die Züge nicht mehr so oft. Nur noch alle 20 Minuten. Aber es war ohnehin nicht so wichtig. Sie hatte keine Eile. Niemand, der sie zu Hause erwartete. Sie hatte Zeit. Wieder blickte sie zum Treppenaufgang auf der anderen Seite. Von dem Mann, der sie vor wenigen Minuten angelächelt hatte, war nichts zu sehen.
Kurze Zeit später lief der Zug ein. Ein dumpfes Grollen war zu hören, bevor die Lichter aus dem Dunkel des Tunnels auftauchten. Dann die Luftströme, die sie erfassten. Sie liebte es, den warmen Windstoß, den der Zug vor sich her schob, auf ihrem Gesicht zu spüren, zu fühlen, wie der Wind durch ihre Haare wehte, und sie stellte sich so nahe an den Rand der Gleise, wie es nur ging. Einen Moment lang schloss sie die Augen. Sie merkte, wie sie leicht hin und her schwankte. Erst als der Zug zum Stehen gekommen war, öffnete sie die Augen wieder.
Der Waggon war nur spärlich besetzt und sie fand ohne Mühe einen Sitzplatz. Ihr gegenüber saß ein älteres Ehepaar und ereiferte sich über die hohen Spritpreise und die Unverfrorenheit der Ölkonzerne, vor Ostern die Autofahrer abzuzocken. Da sei die Katastrophe in Japan gerade rechtzeitig gekommen, um die Profite hochzufahren. Der Mann sah aus, als sei er viel zu alt, um noch ein Auto zu steuern, sodass ihm die Benzinpreise eigentlich hätten egal sein müssen, was seinem Ärger aber offensichtlich keinen Abbruch tat.
Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass morgen Ostern war. Das Fest hatte ohnehin keine Bedeutung für sie. Ebenso wenig wie all die anderen Fest- und Feiertage. Im Grunde gab es nichts, was ihr etwas bedeutete. Schon lange nicht mehr.
Damals, ja, da hatte sie eine Ahnung vom Glück gehabt, aber dann war alles aus den Fugen geraten. Manchmal, vor allem nachts, kamen die Erinnerungen wieder, die sie tagsüber in einen Käfig zu sperren versuchte. Erinnerungen an Lügen, Selbstgerechtigkeit, Verrat und Tod.
Und jetzt war er wieder da, wollte sie sehen. Warum nur? Wollte er denn sein Schweigen brechen? Er wusste doch, dass er das nicht durfte.
Als sie an der Dülferstraße ausstieg, war es kurz vor halb elf. Weit und breit waren keine weiteren Fahrgäste zu sehen und doch fühlte sie sich auf dem Weg zum Ausgang beobachtet. Sie holte tief Luft, ehe sie sich auf die Rolltreppe stellte und darauf wartete, dass sie ansprang. Sie war jedoch außer Betrieb, sodass sie zu Fuß nach oben steigen musste. Sofort hatte sie dabei das Gefühl, dass ihr schwindlig würde. Als sie schließlich ins Freie trat, blickte sie sich mehrmals nach allen Seiten um, als erwarte sie, jemanden vor sich zu sehen. Doch da war niemand.
In der Zwischenzeit war es empfindlich kalt geworden und sie zog ihren dünnen Mantel enger um sich. Zum Glück war es bis zu ihrer Wohnung nicht allzu weit. Mit einem Mal, ohne recht zu wissen warum, fing sie an zu laufen. Die Dülferstraße hinunter, am hell erleuchteten Autohaus Thaller vorbei bis zur Abbiegung in die Reschreiterstraße. Sie lief so lange, bis sie keine Luft mehr bekam, ein Hustenanfall sie schüttelte und sie keuchend stehen blieb. Das Herz in ihrer Brust tobte und zerrte, als wollte es sich befreien. Wie ein wildes Tier im Käfig. Herr im Himmel, dachte sie. Was war bloß los mit ihr? Mit beiden Armen stützte sie sich auf eine Aschentonne, die etwas verloren und vergessen am Straßenrand stand. Einen Moment lang fürchtete sie, sich übergeben zu müssen, aber ihr Schwächeanfall ging vorüber. Nach einer Weile beruhigte sich ihre Atmung, nur ihr linker Arm und das linke Bein schmerzten mit einem Mal so heftig, dass sie den Arm mit der Rechten an sich heranzog und ihn krampfhaft
Weitere Kostenlose Bücher