Roter Herbst - Kriminalroman
nachdem er sie eine Weile nachdenklich betrachtet hatte, abwandte und ihre Wohnung akribisch durchsuchte und schließlich, als er die Wohnungstür sachte hinter sich zuzog, enttäuscht vor sich hin fluchte. »Goddam fuckin’ bitch«, sagte er mehrere Male. Es schien, als ob er dabei trotzdem leise lächelte.
Es war der 23. April 2011, kurz vor Mitternacht, als der Mann das Haus verließ und in die kalte Nacht hinaustrat. Regen lag in der Luft. Die Nacht war die Nacht vom Karsamstag auf den Ostersonntag. In wenigen Stunden würden in der Stadt, im ganzen Land, die Osterglocken läuten.
6
Erst gegen Mittag hörte es auf, zu regnen. Einen Moment lang zeigte sich sogar ein kleines Stück blauer Himmel. Ein österlicher Himmel voll Hoffnung. Jenseits der Baumwipfel, irgendwo in der Ferne. Aber es war kalt. Zu kalt für die Jahreszeit, dachte er.
Der Hüter saß in dem spärlich möblierten Raum vor der Glastür, die zur Terrasse hinausführte. Wie so oft in der letzten Zeit. Im Zimmer war es ebenfalls klamm und ungemütlich, doch es machte ihm nichts aus. Er hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt und sich in den alten Ledersessel gesetzt, den er vor das Fenster gerückt hatte. Wäre es draußen ein bisschen wärmer gewesen, dann hätte er wohl die Tür aufgeschoben, um die saure, erdige Luft des Gartens hereinzulassen. Das wäre schön gewesen, aber im Grunde war es nicht so wichtig.
Die Terrasse war leer und wirkte vernachlässigt. So als würde er sich nicht darum kümmern, was ja auch stimmte. Überall lagen Blätter und das abgestorbene Holz der Bäume. Der angrenzende, riesige Garten, der zum Haus gehörte; auch er ungepflegt und verwildert. Es war ihm, als blickte er auf einen seit Langem von allem Leben verlassenen Park. Da war nichts, was das Auge erfreute oder gar festhielt, nur Wasserperlen, die von einer grünen Wand tropften, stetig und ohne Gnade.
Manchmal, wenn er so dasaß wie eben, da war es ihm, als würden dort draußen Fetzen aus der Vergangenheit vorbeiwehen, bunte Waben, die an den Ästen und Zweigen hängen blieben, die sich aber, wenn er nach ihnen greifen wollte, in schemenhaftes Nichts auflösten. In solchen Augenblicken empfand er die Schwere seines Auftrags in besonderem Maße, und doch herrschte da eine kleine Weile lang Leben um ihn herum und er konnte die Stimmen und die Geräusche von Menschen hören, die an einem gedeckten Tisch saßen und die Wärme der Sonne genossen. Kinderstimmen, das klirrende Lachen einer Frau, Musik, die zwischen den Bäumen und Sträuchern hing …
An diesem Vormittag wollten sich jedoch keine Bilder einstellen. Die Vergangenheit erwachte nicht zum Leben, so sehr er auch davon träumen mochte.
Gerade als er sich erheben wollte, landeten zwei Amselküken auf der Terrasse. Heruntergefallen aus ihrem Nest. Hinaus ins Leben gestoßen vielleicht. Winzige, ungelenke Federknäuel mit kurzen Schwanzfedern, die sofort anfingen, tapsig zwischen den verdorrten Blättern und dem Unkraut herumzustapfen. Der Mann verharrte in seiner Bewegung. Versonnen schaute er ihnen eine Zeit lang bei ihren unbeholfenen Schritten zu, beobachtete, wie sie sich darauf vorbereiteten, den ersten Flug in die Freiheit anzutreten. Sein Blick, der auf ihnen ruhte, war weich und voll Sorge und Mitleid.
Nach einer Weile stand er auf, streifte die Decke von den Schultern und ging zur Terrassentür. Er schob sie vorsichtig auf und trat hinaus. Ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Wie ein erfahrener Krieger. Ganz langsam. Obwohl er nicht mehr sonderlich jung war, bewegte er sich geschmeidig und mit großer Behutsamkeit, sodass die beiden Vögel nichts von einer Bedrohung wahrnahmen. Wie es schien, waren ihre Sinne noch nicht genug geschärft, um die Gefahr zu erkennen.
Erst als er sich zu ihnen hinabbückte, nahmen sie den drohenden Schatten wahr, der über sie gefallen war. Schrille, dünne Schreie voll Panik und verängstigtes Flügelschlagen folgten. Zu spät. Mit jäher Wucht hatten sich seine Finger um die beiden Kreaturen gelegt.
Als er sich erhob, konnte er das Zucken hilflosen Lebens in seinen schwieligen Händen spüren. Er fühlte den zarten Flaum, das filigrane Knochengerüst und das Pumpen der kleinen Herzen.
Eine Weile stand er so. Dann drückte er mit großer Zärtlichkeit zu, bis sämtliches Leben erloschen war.
Er war der Hüter.
7
Adolf Bichlmaier wachte langsam auf. Er hatte geträumt. Es war dunkel im Raum, jedoch er wusste, dass es Morgen war. Er blieb noch
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