Roter Herbst - Kriminalroman
mein Mädel sein, ja, grade so wie ich … ‹
Aus der Ferne schob sich ein Trupp schwarzbrauner Gestalten heran, schwankend im Gleichschritt, gesichtslose Kreaturen, die über ihn hinwegzumarschieren drohten.
Bichlmaier drehte den Kopf, öffnete die Augen. Er spürte seine Steifheit, die Jahre, die seinen Körper verändert hatten. Mir geht es wie dieser Kaserne, dachte er. Auch ich verfalle unaufhaltsam und ohne Gnade. Die Natur holte sich zurück, was ihr gehörte.
Er wandte sich dem Mann zu, der neben ihm stand und ihn beobachtete. Rune war, wie Bichlmaier wusste, zwar nur um einiges älter als er, doch erweckten die Furchen und Falten in seinem Gesicht den Eindruck, als entstammte er einer völlig anderen Generation. Bichlmaier hätte ihn, den ehemaligen Oberfeldwebel, nicht mehr erkannt, wenn er nicht erwartet hätte, ihn hier an diesem Ort zu treffen. Damals, vor mehr als 40 Jahren, war Rune nicht nur ein Vorgesetzter gewesen, sondern fast so etwas wie ein väterlicher Freund, der ihm während der Ausbildung des Öfteren zur Seite gestanden hatte.
Sie hatten sich, als sie sich jetzt nach der langen Zeit wieder gegenüberstanden, unbeholfen die Hände entgegengestreckt, dann aber nicht so recht gewusst, was sie sagen sollten. Der Schäferhund, den der Mann an der kurzen Leine hielt, wirkte unruhig, gehorchte jedoch, als ihm Rune befahl, zu sitzen.
»Lange her, Adolf.«
Bichlmaier nickte, wobei er ihn aufmerksam musterte. Rune war unrasiert und Bichlmaier sah die feinen Äderchen, die von seiner Nase ausgingen und sich unter dem struppigen grauen Bart verliefen. Die Augen des Mannes lagen tief in den Höhlen und glänzten unnatürlich. Bichlmaier fühlte sich bedrückt. Fast bereute er es, dass er sich mit Rune verabredet hatte. Er merkte, wie ihn der andere irritierte.
»Sind dir die Hunde noch immer lieber als die Menschen?«, fragte er, wobei er auf den Rüden deutete, der ihn mit hängender Zunge und wachsam gespitzten Ohren anblickte. Eine gedankenlose Frage, um die Sprachlosigkeit, die sich zwischen sie geschlichen hatte, zu verdecken. Sofort bemerkte er, wie Rune erstarrte und den Blick abwandte, und er bedauerte, dass er die Frage gestellt hatte. Ohne dass er es gewollt hatte, hatte er an etwas gerührt, das nicht auszusprechen war.
Marie, Runes kleine Tochter, war vor mehr als 40 Jahren ums Leben gekommen. Sie war damals vier Jahre alt gewesen. Ein tragischer Unfall, wie es hieß. Rune war einige Tage weg gewesen, irgendwo dienstlich, als das Unglück passiert war. Schon damals war er ein Hundenarr gewesen, hatte Hunde besessen, die er in seiner Freizeit abgerichtet hatte. Aggressive Köter mit muskulösen Nacken und wilden, blutunterlaufenen Augen. Anders als die meisten Soldaten der Kompanie hatte Rune ein Leben außerhalb der Kaserne gehabt, eine Frau und das kleine Mädchen und seine Hunde. Warum er sich für diese Tiere interessiert hatte, hatte Bichlmaier nie verstanden. Sie hatten ihm nur Furcht eingeflößt und ihn angewidert.
Was an jenem Tag dann geschehen war, hatte niemand genau herausgefunden. Auf unerklärliche Weise war die Kleine in den Zwinger mit den Hunden gelangt, hatte wohl mit ihnen spielen wollen. Als Martha, Runes Frau, das wilde Bellen der Hunde und die dünnen Schreie des Kindes gehört hatte, war es bereits zu spät gewesen. Nachbarn hatten wenig später den offenen Zwinger entdeckt. Eigenartigerweise waren die Hunde nicht davongelaufen, sondern hatten sich im Kreis um Martha gelegt, die leise wimmernd ihr totes Kind in den Armen gehalten hatte. Erst nach geraumer Zeit hatten sich einige der Nachbarn zu den Hunden in den Zwinger getraut, wo sie mit Mühe den übel zugerichteten Leichnam des Mädchens Marthas Armen hatten entwinden können.
Als Rune, den man eilig zurückgeholt hatte, heimgekommen war, hatte er völlig die Fassung verloren und war mit bloßen Händen auf seine Frau losgegangen, sodass ihn die Nachbarn hatten zurückhalten müssen. Er war daraufhin von Feldjägern, die man herbeigerufen hatte, festgenommen worden.
Bichlmaier hatte Monate später durch Zufall von dem Unglück erfahren. Da war Rune in der Psychiatrie verschwunden gewesen. In jener Zeit hatte Bichlmaier ohnehin kaum noch Kontakt zu seinem ehemaligen Zugführer gehabt, sodass er sich damals, aber auch später, davor gedrückt hatte, Rune zu besuchen. Auch als der nach langen Wochen und Monaten aus der psychiatrischen Behandlung entlassen worden war, hatte er es tunlichst vermieden,
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