Roter Herbst - Kriminalroman
nach M. zu reisen. Im Lauf der Jahre war das Gefühl einer Verpflichtung, Rune beistehen zu müssen, fast unmerklich geschwunden und Entfremdung hatte eingesetzt, die es ihm erlaubt hatte, sich jedweder Verantwortung zu entziehen. Nur gelegentlich hatte er etwas von Rune gehört. Nie aber von ihm selbst.
Der hatte den Tod seiner Tochter jedenfalls nicht so recht verwunden. Er hatte den Dienst bei der Bundeswehr bald nach dem schrecklichen Ereignis quittiert und war im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Sonderling geworden, den die Menschen mieden und der sich von ihnen ebenfalls fernhielt. Manche hielten ihn auch für verrückt. Als man die Kaserne dann vor einigen Jahren nicht mehr gebraucht hatte und sie trotz der Proteste der Bevölkerung geschlossen worden war, hatte sich Rune eines Tages in einem der leeren Gebäude einquartiert, wo er seitdem, von den kommunalen Behörden geduldet, mit seinem Schäferhund Sandor hauste. Damit war er so etwas wie ein inoffizieller Verwalter des toten Areals geworden, das er nunmehr zu allen Tages- und Nachtzeiten ruhelos durchstreifte. Eine eigenartige Scheu hielt seitdem die Jungen und Mädchen aus der Umgebung davon ab, ihrem nächtlichen Treiben in den verlassenen Mauern der Kaserne länger nachzugehen. Das war insofern erstaunlich, als sie hier bislang, vor allem in den Sommermonaten, wilde Partys und Saufgelage gefeiert hatten. Seit Rune mit seinem Hund durch das Gelände wanderte, hatte dies ein Ende gefunden. Auch zu den Graffiti-Schmierereien an den Mauern der ehemaligen Kompaniegebäude waren keine neuen hinzugekommen.
Er glich selbst einem alten Jagdhund, dachte Bichlmaier, der verlegen dastand und wartete, dass sich Rune aus seiner Erstarrung löste.
»Was willst du von mir, Adolf? Nach all der Zeit tauchst du hier auf. Warum? Du willst doch nicht mit mir über Hunde plaudern, oder?«
»Nein, natürlich nicht?«, sagte Bichlmaier. »Ich kann Hunde ohnehin nicht leiden, wie du weißt. Ich mache mir nichts aus Tieren …« Und aus den Menschen auch nicht, dachte er noch. »Du bist viel unterwegs mit deinem Hund. Siehst eine Menge, nehme ich an … Treibt ihr euch manchmal im Moor herum?«
Bichlmaier bemerkte, dass sein Gegenüber mit einem Mal auf der Hut war. »Natürlich, warum nicht? Da hat man seine Ruhe und mein Sandor bekommt genug Auslauf.«
Der Hund knurrte, als er sein Name fiel und zerrte ungeduldig an der Leine.
»Du hast von dem Toten im Moor gehört?«
Rune zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Nicht viel.«
»Es soll sich um einen Ami handeln, der aus irgendwelchen Gründen nach Deutschland gereist ist. Jemand hat ihn übel zugerichtet und seine Leiche dann im Moor in einen Baum gesteckt … wie eine Vogelscheuche.«
»Ich kenne keine Amis. Hier gibt es kaum Fremde. Niemanden, der mich in meinem Reich je besucht. Es kommen ja nicht mal die alten Freunde.«
Bichlmaier wartete. Er begann etwas von der hilflosen Einsamkeit, die Rune in den letzten Jahrzehnten geprägt hatte, zu ahnen. Einen Moment empfand er das als etwas Tröstliches, dachte er an die eigene Verlorenheit, doch schämte er sich sofort seiner Gedanken.
Er kramte in der Brusttasche seiner Jacke. Als er losgefahren war, hatte er darauf geachtet, ein Foto des Toten einzustecken, das die Polizei an die Presse weitergegeben hatte, in der Hoffnung den zu der Zeit noch Unbekannten identifizieren zu können. Wenn er die Polizistin mit der großen Oberweite richtig verstanden hatte, dann hatte ihn in der Zwischenzeit tatsächlich jemand erkannt. Aus irgendeinem Grund war er mit ihrer Auskunft jedoch nicht zufrieden. Als er den Ausschnitt schließlich zwischen seinen Papieren fand, zog er ihn heraus, glättete ihn und hielt ihn Rune hin. Der studierte das Bild sehr sorgfältig, sodass Bichlmaier zu hoffen begann. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Den Mann kenne ich nicht«, sagte er. »Ich habe kein gutes Gedächtnis für Gesichter. Aber den habe ich noch nie gesehen. Da bin ich mir sicher.«
Bichlmaier nickte, verbarg seine Enttäuschung.
»Warum interessiert dich der Tote überhaupt?«, fragte Rune. »Kommt er dir bekannt vor?«
Bichlmaier hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht. Als ich ihn sah, hat er mich an jemanden erinnert, aber ich weiß nicht, an wen.«
»An jemanden von damals?«
»Kann sein.«
»Manchmal verschwinden Leute und kehren erst zum Sterben wieder zurück.«
Bichlmaier blickte ihn erstaunt an. »Was meinst du damit?«
»Damals
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