Roter Herbst - Kriminalroman
ist so mancher weg. Viele, denen es zu eng bei uns geworden ist. Vor allem die Jungen haben sich verdrückt. Nach Indien zu den Gurus oder zu den Amis, wo sich keiner um sie gekümmert hat.«
»Weg aus Deutschland?«
»Na ja, aus der Bundesrepublik. Die anderen konnten ohnehin nicht weg.« Rune sagte es ohne Ironie, ohne zu lachen. »Wolltest du denn damals nicht auch weg?«
Bichlmaier musste nicht nachdenken. »Nein«, sagte er. »Daran habe ich niemals gedacht. Warum auch?«
»Wegen des Mädchens vielleicht?«
Das Mädchen. Das Mädchen. Das Mädchen … Es gibt Schatten, die nicht weichen wollen, dachte Bichlmaier. Was wusste denn Rune davon? Er antwortete nicht und Rune gab sich damit zufrieden.
»Warum bist du überhaupt hierher zurückgekommen?«
»Nicht, um hier zu sterben«, knurrte Bichlmaier. »Eigentlich bin ich nur hergekommen, um endlich aus meinem alten Leben wegzukommen. Das kennt man doch. Es gab nichts mehr zu tun, nichts Neues, nichts, nichts …«
»Bist du verheiratet?«, fragte Rune.
»Ich habe eine Frau, aber sie wollte nicht mehr mit mir leben. Sie ist nach Rom gezogen, in die Wärme. Die hat ihr in Regensburg immer gefehlt. Das raue Klima der Oberpfalz war nichts für sie. Da wäre sie irgendwann eingegangen. Du weißt schon …«
Rune schwieg, als würde er verstehen. Dann zog er einen alten Flachmann aus der Brusttasche und gönnte sich einen kräftigen Schluck. Nachdem er die Flasche abgesetzt hatte, verzog er das Gesicht. Erst danach hielt er sie Bichlmaier hin, doch der schüttelte nur den Kopf.
»Kinder?«, fragte er.
Bichlmaier zögerte kurz. »Nein«, sagte er und blickte dabei an Rune vorbei. Dass gerade er ihn danach fragte? Und wie es wohl war, wenn man Kinder hatte? Er dachte an Marianne und wie schlimm es für sie gewesen war, dass sie keine Kinder bekommen hatten, und als er Rune da so stehen sah mit seinem Flachmann in der Hand, da dachte er an seinen und Mariannes gemeinsamen Kampf gegen den Alkohol, den Feind, der ihn schon so fest im Griff gehabt hatte. Manchmal konnte man diesen Kampf einfach nicht gewinnen, schoss es ihm dabei durch den Kopf. Vielleicht war das bei Rune so. Wie groß musste der Schmerz sein, wenn man sein einziges Kind verlor?
Das Kasernengelände war riesig und grenzte an die Moorlandschaft in der Ferne. Bichlmaier versuchte abzuschätzen, wie weit es bis zu den abfallenden Hängen war, die fast unmerklich in die Moorlandschaft übergingen. 300, 400 Meter oder mehr? Die Mauer mit Stacheldraht, die das Areal abgrenzte, war kaum zu erkennen. Er konnte sich aber erinnern, dass dort ein Sportplatz gewesen war, auf dem sie ihre Runden drehen mussten. Zur Ertüchtigung. Um bereit zu sein für einen Feind, den es längst nicht mehr gab.
»Es kursierten damals wilde Gerüchte über alte Nazis in der Kompanie und über sonderbare Aktivitäten von einigen unserer Ausbilder, einige Vorkommnisse, die nicht ganz astrein waren. Seltsame Geschichten waren das …«
Rune winkte ab, schob die Frage, die hinter Bichlmaiers Bemerkung stand, zur Seite, wischte sie weg, wie Brotkrümel von der Tischdecke.
»Damals ist viel Unsinn erzählt worden. Einiges hat ja sicher auch gestimmt. Vieles war aber blühender Schwachsinn.«
Wie seltsam, überlegte Bichlmaier. Warum wollte Rune über das Vergangene nicht sprechen? Ob es wegen seiner Tochter war? Er wusste es nicht. Dann, ohne dass er es beeinflussen konnte, begannen Bilder von den unendlich langen Wochen und Monaten in der Kaserne an ihm vorbeizuziehen. Er war selbst erstaunt, wie viele Erinnerungen noch in ihm steckten. An vieles dachte er mit Unbehagen zurück, allerdings war nicht alles in dieser Zeit schlecht gewesen.
»Kannst du dich an das Mädchen erinnern, das in der Kantine bedient hat?«, fragte er.
»Die Russin? Na klar. Swetlana. Die ganze Kompanie war scharf auf sie. Hat den meisten von euch jungen Spunden feuchte Träume beschert, oder?«
Bichlmaier lachte auf. »Da hast du recht.« Er erinnerte sich an quietschende Stockbetten und schwitzende junge Männer, die nicht wussten, wohin mit ihrer jugendlichen Kraft und Brünftigkeit. Und alle hatten sie in einsamen Nächten wohl nur ein Bild vor Augen gehabt: Swetlana mit ihren derben, slawischen Zügen und ihrer bäuerlich blühenden Geilheit, die ihnen Nacht für Nacht nahe gewesen war und die sie trotz der räumlichen Ferne nach Belieben bedient und geschändet hatten. Jeder Einzelne, allein mit sich und seinen Fantasien. Und natürlich
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