Roter Herbst - Kriminalroman
etwas, wohl eine Fledermaus, mit nervösem Flügelschlag an ihm vorbeiflatterte und ihn dabei leicht berührte. Ein unerklärlicher Ekel vor Tieren, nicht nur vor Hunden, hatte ihn sein ganzes Leben lang begleitet, und der war besonders groß, wenn er sich ihnen ausgeliefert fühlte, wie hier in der Dunkelheit. Einen Moment verspürte er das Bedürfnis, wild mit den Armen um sich zu schlagen, doch er kämpfte den Anflug von Panik nieder. Sie stiegen eine Treppe hoch und nach dem dritten oder vierten Absatz begann Licht durch eine Reihe schartenartiger Fenster hereinzudringen. Als sie oben waren, öffnete Rune eine Falltür und dann traten sie auf eine Art Plattform hinaus. Bichlmaier fröstelte. Hier draußen wehte ein harter, böiger Wind, doch der Blick, der sich ihnen bot, war in der Tat unbeschreiblich.
Vor ihren Augen breitete sich eine schier unendliche Moorlandschaft aus, von dichten Wäldern flankiert, die sich in weitem Bogen um das flache Areal zogen und irgendwo am Horizont aufeinander zuliefen. Über all dem lag das bleiche Licht einer untergehenden, in der Zwischenzeit kalt gewordenen Sonne.
»Was wohl dort draußen ist?« Bichlmaier richtete den Blick in die Ferne. Beide atmeten schwer. Rune deutete in einer umfassenden Geste auf die Moorflächen, die sich unterhalb des Turmes auszudehnen begannen.
»In dieser Gegend triffst du auf alles, was deine wildesten Fantasien heraufbeschwören mögen. Alte, verlassene Höfe und Gemeinden, Geisterdörfer, bis auf die Grundmauern abgerissen, die allmählich ganz verfallen. Manchmal, wenn ich hier oben bin, vergesse ich die Zeit und dann fange ich an zu träumen. Es ist immer derselbe Traum, den ich habe. Ich stehe nahe am Rand und ich sehe nur diese Landschaft zu meinen Füßen. Es ist, als ob ich über die Welt herrschte, und ich möchte fortschweben und …«
»Und dann?«, fragte Bichlmaier.
Rune zuckte mit den Schultern. »Dann wache ich immer auf … Zum Glück.«
Bichlmaier zog seine Jacke fester um sich. Einen Augenblick lang hatte er das Bedürfnis, an den Rand der Plattform zu treten, um besser verstehen zu können, was Rune in seinem Traum empfand, aber er traute sich nicht. Das Geländer, das um den Turm lief, sah viel zu alt und brüchig aus. Es genügte wohl, wenn er die Welt von seiner gesicherten Position aus betrachtete. Er ahnte ohnehin, was Rune bewegte.
»Du hast vorhin nach den Gerüchten gefragt, nach den Männern, die als Ausbilder in der Kaserne gelebt haben, wolltest wissen, was sie in ihrer Freizeit getrieben haben, nicht wahr?«
Bichlmaier nickte erstaunt, wartete, dass Rune weitersprach. Der ließ sich jedoch Zeit, nahm seinen Flachmann heraus und trank mit gierigem Zug. Bichlmaier fröstelte und zum ersten Mal nach langer Zeit sehnte er sich wieder nach Alkohol.
»Das war ein bunter Haufen und die meisten von ihnen waren ziemlich jung und dumm. Grüne Jungs, die noch nicht so recht erwachsen waren. Immerhin waren sie etwas älter als du und die einfachen Rekruten. Zeitsoldaten, die sich auf mehrere Jahre verpflichtet hatten. Berufssoldaten. Die waren so richtig mit dem Herzen dabei, verstehst du?«
Bichlmaier schwieg. Wiederum tauchte er ein in eine ferne Vergangenheit, sah die Bilder von damals. Er hatte die meisten von diesen Leuten, seine Ausbilder, mit Argwohn betrachtet, hatte sich unwohl gefühlt in ihrer Nähe, hatte geahnt, dass sie völlig anders dachten als er selbst, ohne genau sagen zu können, worin sie sich dabei von ihm unterschieden. Er konnte sich sogar noch an Namen erinnern. Tafelmaier, Illner, Goldner … Andere wiederum waren wie ausradiert.
»Die Mehrzahl von ihnen war politisch ziemlich extrem. Die haben in einer eigenen Welt gelebt. Da war kein Platz für Hippies und schlaue Studenten und Revoluzzer …«
»Warst du denn auch einer von ihnen?«
»Nein. Ich habe zwar von ihren Aktivitäten gewusst, aber solange sie sich im Dienst und in der Kaserne korrekt verhielten, hatten sie von mir nichts zu befürchten. Was dann nach Dienstende alles lief, war mir ziemlich egal. Dem damaligen Kompaniechef übrigens auch.«
»Was meinst du damit?«
»Na, die haben sich auf ihren Buden getroffen, haben Kampflieder gesungen und Führerreden vom Tonband abgespielt. Dazu haben sie gesoffen und mit ihren Erfolgen bei den Mädchen der Stadt geprahlt. Nichts Außergewöhnliches.«
»Und das war alles?«
»Nein, da gab es auch Cliquen außerhalb der Kaserne. Leute aus den Dörfern rings um die Stadt. Viele, die
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