Roter Herbst - Kriminalroman
war. Aus der Fürsorge irgendwo im Norden. Wo genau, hatte er vergessen oder vielleicht hatte er es auch nie so genau gewusst. Nach einigen Jahren im Heim, an die er nur höchst ungern zurückdachte, waren plötzlich Pflegeeltern aufgetaucht, die ihn mitnehmen wollten. Warum sie ausgerechnet ihn ausgesucht hatten, hatte er sich damals oft gefragt, ohne je eine Antwort darauf erhalten zu haben. Seine neue Familie in München, mit Wohnung im vornehmen Bogenhausen: Lisbeth und Eberhard, ein Architektenehepaar. Von Anfang an hatten sie darauf bestanden, dass er sie mit ihren Vornamen ansprach. Sie und ihre Freunde hatten das für das Beste gehalten, angesichts der Tatsache, dass keine leibliche Beziehung bestand. Warum hätte man nicht offen damit umgehen sollen?
Seine leibliche Mutter war zu der Zeit bereits einige Jahre tot gewesen. Schon damals hatte er sich kaum noch an sie erinnern können, wusste nur, dass sie sehr schön gewesen sein musste. Das hatte ihm eine der Schwestern in seinem früheren Heim erzählt. Immer wenn er nicht einschlafen konnte, war sie zu ihm gekommen und hatte ihm von seiner Mama erzählt. Dass sie eine wunderschöne Frau gewesen sei und wie ein Engel ausgesehen habe. Und dass sie jetzt im Himmel sei. Dazu hatte sie ihn gestreichelt und manchmal hatte er auch sie streicheln müssen. Anfangs hatte er das gehasst, weil sie sich an manchen Stellen so feucht und klebrig angefühlt hatte, und er hatte sich ziemlich ungeschickt angestellt. Auch hatte er immer Angst gehabt, dass die anderen Kinder im Schlafsaal aufwachen würden. Das war seine größte Sorge gewesen … Aber die Geschichten über seine Mama, die hatte er geliebt.
Seine Pflegeeltern hatten keine eigenen Kinder gehabt. Einmal, im Alter von 14, hatte er sie belauscht, wie sie darüber gesprochen hatten. Irgendetwas hatte wohl mit Eberhards Spermien nicht gestimmt. Lisbeth hatte darüber gelacht und ihn einen Schlappschwanz genannt. Da war Eberhard böse geworden und hatte sie geohrfeigt. Aber das schien ihr nichts ausgemacht zu haben. Sie hatte seine Hände gepackt und ihn geschüttelt. Das hatte richtig komisch ausgesehen und sie hatte dabei gelacht und immer weiter gelacht, bis er sich freigemacht hatte und davongelaufen war.
Noch im selben Jahr hatte ihn Lisbeth zum ersten Mal zu sich ins Bett geholt. Eberhard hatte damals viel in anderen Städten arbeiten müssen, sodass sie beide oft allein im Haus zurückgeblieben waren, er und seine Pflegemutter. Anfangs hatte er gar nicht gewollt. Aber später hatte es ihm besser gefallen als das entwürdigende nächtliche Spiel unter seiner Zudecke – allein mit sich und seinen wirren Träumen.
Bald hatte er sich auch nicht mehr so ungeschickt angestellt wie damals im Heim. Sie hatte ihm gezeigt, was sie gerne hatte, und er hatte ihr brav gegeben, wonach sie verlangt hatte. Erst mit der Zeit hatte er allerdings verstanden, dass sie am zufriedensten gewesen war, wenn er sie wie eine Schlampe behandelt und gedemütigt hatte. Da war sie dann immer auf allen Vieren zu ihm gekrochen und hatte um seine Zuwendung gebettelt. Hinterher aber hatte sie ihn jedes Mal in sein Zimmer geschickt und so getan, als sei nichts gewesen. Dafür hatte er sie verachtet und sich hundert Mal geschworen, nicht mehr zu tun, was sie von ihm verlangte.
Als er 16 geworden war, war er schließlich aus München weggegangen. Eine wilde Zeit war gefolgt, in der er die Abgründe des Lebens in rasanter Abfolge kennengelernt hatte. Erst viele Jahre später war er wieder zurück in die Stadt gekommen. Nur einmal noch hatte er dann Lisbeth und Eberhard aufgesucht. Da hatte er sich seine Papiere und Unterlagen geholt, die er damals, als er weggelaufen war, zurückgelassen hatte.
Zumindest hatte sie mir keine Geschichten von Mama erzählt, die alte Schlampe, dachte er. Es war schon komisch, was einem manchmal so durch den Kopf ging …
Als er jetzt am Autohaus Thaller vorbeikam, verharrte er einen Moment. Ein wuchtiger Kombi mit breiter Schnauze und dicken Alurädern stand wie zum Sprung hinter einem der Fenster des Verkaufsraumes und ließ ihn näher herantreten. Obwohl es schon spät war und die Läden und Geschäfte entlang der Straße längst geschlossen hatten, waren die Verkaufsräume noch immer beleuchtet. Aber es war eher eine Notbeleuchtung, die man angelassen hatte, um die späten Spaziergänger und die Nachtschwärmer anzulocken. Ein Teil der Schaufenster war nur spärlich ausgeleuchtet, sodass er sein
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