Roter Herbst - Kriminalroman
Glocken einer nahen Kirche, schlugen zur vollen Stunde, und einen Moment lang dachte er daran, dass jetzt, gerade um diese Zeit, die Beerdigung seiner Mutter am Waldfriedhof in B. begann. Er schämte sich seines Verhaltens und im Nachhinein ärgerte ihn sein fluchtartiger Aufbruch. Er ahnte, wie verstörend das Ganze auf andere wirken musste.
Warum war er nur so? Wovor hatte er eigentlich Angst?
Es blieb ihm jedoch kaum Zeit, sich der Frage zu stellen, denn gänzlich unvermittelt ertönte ein Summer, und die Haustür schnappte auf. Wie es schien, wurde er schon erwartet.
Gina Baier wohnte im zweiten Stock und empfing ihn vor ihrer Wohnungstür.
Bichlmaier war überrascht, als er die Frau sah. Sie wirkte weitaus jünger, als er erwartet hatte, und entsprach bei Weitem nicht dem Bild, das er von einer pensionierten Grundschullehrerin hatte. Sie lächelte ihn an, während er etwas atemlos die letzten Treppen nach oben keuchte. Ihre Hand, die sie ihm reichte, war weich und ein bisschen feucht und hielt die seine länger als notwendig. Sie erklärte ihm, dass sie ihn schon habe kommen sehen, und führte ihn dann in ihr Wohnzimmer. Ein verspielter Raum, in dem es ganz leicht nach ihrem Parfüm roch. Sie lebte wohl allein.
Er setzte sich in den Sessel, auf den sie gezeigt hatte, und sank sofort so tief hinein, dass das Gefühl aufkam, sich nie wieder daraus befreien zu können. Auf ihre Frage, ob er Kaffee wolle, nickte er nur und versuchte, wieder etwas zu Atem zu kommen.
»Sie wollen sicher wissen, warum ich hier bin«, sagte er, nachdem sie Kaffee gebracht hatte.
»Natürlich«, lachte sie, »natürlich würde ich das gerne wissen. Ein leibhaftiger Kommissar …«
Bichlmaier kramte in seinem Jackett und holte zwei Fotografien heraus, die er vor sie hinlegte. Sie warf einen langen Blick darauf und beugte sich dabei leicht nach vorn, sodass er ihr Parfüm intensiv wahrnahm.
»Marlies war ein ungewöhnlich schönes Mädchen«, sagte sie nach einiger Zeit. Es klang bedauernd, als machte ihr die Diskrepanz zwischen dem, was die letzte Aufnahme von Marlies zeigte, und ihrer Erinnerung an die Freundin zu schaffen. Vielleicht war es aber auch allgemein der Gedanke, was die Zeit aus den Menschen machte, der sie betrübte.
»Wie war das damals, als Sie sich in Berlin kennengelernt haben?«
Sie zögerte einen Augenblick und warf noch einmal einen Blick auf das Foto der toten Marlies, bevor sie antwortete. »Ich bin ihr im Frühjahr 71 zum ersten Mal begegnet. An der FU. Ich kann mich noch gut erinnern. Ich saß in einem Studentencafé in der Nähe der Rostlaube. Dorthin kamen hauptsächlich Studenten der Geisteswissenschaften, die stundenlang wild diskutierten … Für mich war es das erste Semester und alles war wahnsinnig aufregend …«
Sie lächelte, als erinnerte sie sich gerne an die Zeit. Bichlmaier betrachtete ihr Gesicht von der Seite. Die Frau machte einen etwas verlebten Eindruck und war für seinen Geschmack viel zu stark geschminkt. Gar nicht wie eine Grundschullehrerin, dachte er unwillkürlich. Eher wie eine Professionelle. Dabei strahlte sie eine Sinnlichkeit aus, die ihn beunruhigte.
»Es ging recht eng zu, die Tische und Stühle waren besetzt und Marlies fragte, ob sie sich zu mir an den Tisch setzen dürfe.«
»War sie allein?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Wir kamen ins Gespräch, redeten über Gott und die Welt, über Politik und unsere Profs. Sie trank dabei Alkohol, ziemlich viel und ziemlich schnell, es war ein warmer Tag, und nach einer Weile fing sie plötzlich an zu weinen.«
»Hat sie einen Grund genannt?«
»Na ja. Das alte Lied. Ihr Freund hatte sie verlassen, sie war schwanger und wusste nicht wohin …«
»Konnten Sie ihr helfen?«
»Ich hatte damals eine recht geräumige Wohnung in Dahlem, ganz in der Nähe … Ich bot ihr an, mitzukommen und fürs Erste zu bleiben.«
»Ganz einfach so?«
»Das war damals eine besondere Zeit. Vor allem in Berlin … Die Studenten lebten sehr frei, und so etwas war nicht ungewöhnlich. Außerdem gefiel sie mir.«
Bichlmaier dachte an die eigenen Jahre zurück. Von solch einem freien Leben hatte er immer geträumt. »Wie kam es überhaupt, dass Sie über eine große Wohnung in Uni-Nähe verfügten, als Studentin? Hatten Sie denn reiche Eltern?«
»Aber, aber, Herr Kommissar, was für Fragen Sie da stellen. Ich hatte einfach nur gute Freunde, die mich hin und wieder unterstützt haben …«
»Verstehe«, nickte Bichlmaier. »Hatten Sie denn
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