Roter Herbst - Kriminalroman
blieb. Einiges an Wäsche, an Kleidung, Schuhe und eine Dose mit Keksen. Dazu ein dünnes Bündel mit Briefen, das sie aufbewahrt hatte. Das Bett war bereits abgezogen.
»Sie war schon lange nicht mehr ansprechbar«, sagte die Schwester. »Sie hat in ihrer eigenen Welt gelebt.«
Dann ließ sie ihn allein.
Bichlmaier setzte sich auf das Bett. Wie würde sein Leben enden? Ob er irgendwann auch in eine Welt des Vergessens eintauchen würde, langsam und ohne es so recht zu merken?
Eine Frage der Gene, dachte er. Vielleicht hatte er ja Glück und kam nach seinem Vater. Der war gestorben, noch ehe er die 70 erreicht hatte. Ein schneller, gnädiger Tod.
»Hast du das Gefühl, dass dein Leben auf das Ende zugeht?«, hatte ihn Marianne vor Monaten einmal gefragt, als es ihm so schlecht gegangen war.
Er hatte mit der Antwort gezögert. »Manchmal«, hatte er gesagt. »In meinem Alter hat man ja das meiste schon hinter sich. Da darf man sich nichts vormachen.«
Nach einer Weile stand er auf, ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden, und ging zum Ausgang. Am Ende des Ganges blickte er sich noch einmal um. Da war niemand mehr, der vor sich hin ins Nichts starrte. Der Gang lag erschreckend verlassen da.
Dann fuhr er los, fuhr ohne Unterbrechung mehrere Stunden lang, bis er wieder in M. ankam.
Drittes Buch
Rainer, wenn du wüsstest!
(Peter Urbach, ehemaliger V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz in einem Telefongespräch mit dem Exkommunarden Rainer Langhans)
25
Als Bichlmaier am späten Nachmittag in M. ankam, hatte sich die Wetterlage dort erstaunlich verändert. Kein wolkenverhangener Himmel mehr oder Regen, sondern wärmender Sonnenschein begrüßten ihn.
Obwohl er viele Stunden ununterbrochen am Lenkrad verbracht hatte, fühlte er sich ungewöhnlich agil und voller Tatendrang. Dabei konnte er sich nicht einmal erklären, woher das kam. Tief in seinem Inneren ahnte er, dass sie sich der Auflösung des Falles, der streng genommen nicht der seine war, näherten. Vielleicht hatte ja das mit dieser Leichtigkeit zu tun.
»Wir haben einen Namen«, sagte Amanda, nachdem sie ihn begrüßt hatte. Kein Wort, keine Frage, warum er schon so bald zurückgekommen war. So als wollte sie ihn nicht drängen, sich zu offenbaren. »Jemand, der sich im Zuge unserer Ermittlungen gemeldet hat.«
Bichlmaier blickte Amanda verständnislos an.
»Eine Frau in Marlies’ Alter, die vor vielen Jahren mit ihr befreundet war. Anscheinend haben die beiden damals zusammen in Berlin gewohnt.«
»Wie seid ihr auf sie gekommen?«
»Routinearbeit und Zufall.«
»Wie heißt sie?«
»Gina Baier.«
»Oh, was für ein Name! Lebt sie noch in Berlin?«
»Nein. Sie sagt, sie sei nach dem Fall der Mauer nach Frankfurt gezogen. Hat dort eine Weile als Grundschullehrerin gearbeitet.«
Bichlmaier lachte. »O je. Ein altes Fräulein.«
»Sie klang am Telefon recht munter. Könntest du mit ihr sprechen? Vielleicht weiß sie etwas über den geheimnisvollen Vater von Martin. Möglich, dass sie ihn gekannt hat. Ich kann hier nicht weg … und alte Fräulein müssten doch dein Fall sein.«
»Aber hallo«, sagte Bichlmaier, »wie kommst du denn auf solchen Unsinn?«
Am nächsten Morgen, bevor er losfuhr, rief er seine Schwester an. Er wollte sich entschuldigen, dass er der Beerdigung nicht beiwohnen würde, dass er wieder einmal vor der Verantwortung geflohen war. Er wollte ihre Absolution, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, legte einfach auf. Er versuchte es noch einige Male, aber sie hob nicht mehr ab. Auch Marianne war nicht zu erreichen. Nach einiger Zeit gab er es auf.
Es war zehn Uhr, als er von seiner Wohnung losfuhr. Kurz vor Frankfurt schaltete er sein Navi ein, das ihn in einen der schmucken Vororte der Stadt lotste. Da er eher als erwartet am Ziel war, beschloss er, erst einmal zu Mittag zu essen. Er hatte die Wahl zwischen einem Italiener und einem einheimischen Gasthaus und da ihm nach Deftigem zumute war, wählte er das bürgerliche Lokal. Die Bedienung war jedoch unfreundlich und der Lärmpegel, der im Lokal herrschte, machte ihn nervös und gereizt. Deshalb schlang er sein Essen hinunter, zahlte umgehend und verließ das Lokal so schnell wie möglich. Das gute Gefühl, das ihn während der Fahrt, trotz aller Trauer, erfüllt hatte, war verflogen.
Pünktlich um 14 Uhr stand er vor dem Haus, in dem Gina Baier wohnte. In dem Moment, als er die Hand ausstreckte, um auf den Klingelknopf zu drücken, erklangen die
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