Roter Herbst - Kriminalroman
die Staubflusen tanzten.
»Natürlich«, sagte er. »Komm nur.« Er trat an ihr vorbei und führte sie durch eine Reihe von Zimmern, an deren Wänden unzählige Dokumentenschränke aufgereiht standen. Während sie daran vorbeischritten, versuchte sie anhand der Beschriftung ein System zu erkennen, nach dem die Schränke und ihre Inhalte angeordnet waren, aber es war ihr nicht möglich. Sie stellte nur eine wirre Aneinanderreihung von Zahlen und Buchstaben fest, die ihr nichts sagten. Am Ende der Zimmerflucht kamen sie zu einer hölzernen Wendeltreppe, die sie in ein tiefergelegenes Stockwerk führte. Wieder durchquerten sie eine verwirrende Vielzahl von Räumen. Diese waren nun weitgehend düster und nur noch spärlich mittels einiger Glühlampen ausgeleuchtet. Amanda bückte sich instinktiv, da die Räume zudem immer niedriger und bedrohlicher zu werden schienen, je weiter sie gingen. Maulmann, der stumm und ebenfalls gebückt voranschritt, kam ihr dabei, als sie ihn von hinten betrachtete, tatsächlich wie ein Maulwurf vor, der sich durch enges, staubiges Erdreich grub.
Nachdem sie so einige Minuten gegangen waren, blieb er plötzlich stehen. Er deutete auf ein wackeliges Tischchen in einer Ecke mit einem riesigen alten Lederstuhl davor.
»Warte hier«, sagte er. »Ich bringe dir, was du suchst.«
Wieder dauerte es eine Weile, dann kam er mit dünnen vergilbten und verstaubten Aktenordnern zurück, die er vor sie auf den kleinen Tisch legte.
»Man weiß nie, was man findet«, meinte er, wobei er sie durch seine dicken Brillengläser anstarrte.
Dann ließ er sie allein, war verschwunden, ohne dass Amanda gesehen hatte, wohin er gegangen war. Sie rückte die Tischlampe zurecht, die ebenfalls nur ein düsteres Licht verbreitete, und begann zu lesen und in die Vergangenheit einzutauchen.
Als sie nach einer knappen Stunde aus der dunklen Höhle wieder ans Licht des Tages trat, hatte sie eine Ahnung von dem, was vor vielen Jahren geschehen war und aller Wahrscheinlichkeit nach in irgendeiner Weise auch zu dem Mord im Moor geführt hatte.
Maulmann hatte ihr zum Abschied die Hand gereicht. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, hatte er sie dabei gefragt. Amanda hatte geblinzelt und genickt. Sie hätte gerne gewusst, ob der alte Maulwurf nicht mehr von den damaligen Vorkommnissen wusste, als er ihr je sagen würde.
Er lauschte ihren Atemzügen. Die kamen stoßweise, setzten rasselnd ein, um gleich darauf wieder für Ewigkeiten auszusetzen. Dann wartete er, zählte die Sekunden bis zum nächsten krampfhaften Würgen. Manchmal dauerte es so lange, dass er dachte, sie würde es nicht mehr schaffen. Irgendwann, das wusste er, würde es tatsächlich so sein. Sie würde einfach aufhören, zu atmen.
Im Zimmer war es hell, obwohl Mitternacht gerade erst vorbei war. Als sie zu Bett gegangen waren, hatten sie nicht daran gedacht, die Vorhänge zuzuziehen, und jetzt stand der Mond direkt vor dem Fenster und leuchtete herein.
Er hielt es noch eine Viertelstunde aus, dann schob er die Bettdecke zur Seite und stand auf. Eine Weile blieb er am Fenster stehen und starrte hinaus auf die spiegelblanke Fläche des Moors, das im Mondlicht ganz gespenstisch aussah. Es schien ihm, als könnte er Fußspuren sehen, die hinausführten in die unendliche Weite. Spuren, die auf ewig blieben und nicht verschwinden wollten. Es gab Fußspuren und Handlungen, die niemals verschwanden, dachte er, und Leben, das auf ebensolche Weise erhalten blieb.
Dann ging er hinunter, um sich anzuziehen. Als er an der Schlafzimmertür des Jungen vorbeikam, hörte er, wie er im Schlaf weinte und stöhnte.
In der Küche bereitete er sich etwas Proviant, Wurstbrote und dazu Süßigkeiten, und verstaute alles in seinem Rucksack. Anschließend packte er mehrere Flaschen mit Trinkwasser hinein, da er aus Erfahrung wusste, dass sie bald Durst bekommen würden.
Als er mit den Vorbereitungen fertig war, blieb er eine Weile am Küchentisch sitzen und ließ seine Gedanken wandern, dachte darüber nach, wie es so weit mit ihm hatte kommen können. Mit ihm und dem ganzen Leben. Wie hatte ihm alles nur so entgleiten können? Natürlich wusste er, wer die Schuld an dem Schlamassel trug. Diese verfluchte Sau, diese elende Drecksau! Da war es nur richtig gewesen, was sie getan hatten. Warum nur hatte er wieder auftauchen müssen? Wäre er doch in seinem Versteck geblieben. Hatte er denn nicht gewusst, was ihn erwartete? Noch hatte er seine Schreie im Ohr.
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