Roter Herbst - Kriminalroman
liebte den Frühling, aber noch mehr den Sommer, und sehnte sich nach dessen Wärme und Geborgenheit. Noch war es manchmal bitter kalt, brachten die Winde aus dem Norden eine Mahnung von einer anderen, vergänglichen Seite des Lebens. Doch seit gestern hatte sich eine stabile Wetterlage eingestellt, was darauf schließen ließ, dass die Kraft des Winters wohl endgültig gebrochen war.
Die Blätter der Zeitung, die sie vor sich ausgebreitet hatte, raschelten im Zug des Windes und ließen ihre Gedanken in die Realität zurückkehren. Noch immer befasste sich die Presse recht ausgiebig mit dem Mord im Moor, der eine seltsame Faszination auf die Menschen auszuüben schien. Und nach wie vor wurde heftig spekuliert, ob nicht Verbindungen zu ehemaligen Gladio-Zellen der Hintergrund für das grausame Verbrechen sein könnten.
Immer wieder fiel dabei auch hinter vorgehaltener Hand der Name Magnus Berger. Sie wollte diese Zusammenhänge ebenfalls nicht ausschließen, doch deuteten die bisherigen Ermittlungen auch auf sehr persönliche Motive hin. In diesem Zusammenhang ging ihr schon seit geraumer Zeit ein Gedanke durch den Kopf. Da war etwas gewesen, das der Kollege aus Regensburg gesagt hatte. Etwas, das sie nicht in Ruhe ließ, etwas, dem sie nachgehen musste.
Sie faltete die Zeitung zusammen und erhob sich. Dann machte sie sich fertig, die Wohnung zu verlassen.
Das Archiv in einem der Nebengebäude des Kommissariats fristete ein Schattendasein, seit das Zeitalter der Digitalisierung Einzug in die Polizeiarbeit gehalten hatte. Nur selten verirrte sich jemand in den düsteren, alten Bau, in dem die Akten der letzten knapp 50 Jahre gelagert waren. Dort war das Reich des Maulwurfs, wie der alte Maulmann von den Kollegen genannt wurde.
Ehe die kleine Polizeidienststelle zu einer richtigen Mordkommission aufgebaut worden war, war er für die Ablage und Organisation der Aktenberge, die Monat für Monat, Jahr für Jahr anfielen, zuständig gewesen. Niemand wusste so recht, wie lange der Maulwurf bis zu seiner Pensionierung hatte, und viele munkelten, dass er das selbst auch nicht wisse. Ja, vielleicht hatte man einfach vergessen, dass es ihn gab, und der Zeitpunkt für sein Ausscheiden aus dem Dienst war längst vergangen. Eine kafkaeske Figur in einer Warteschleife des Lebens.
Der Maulwurf war irgendwann einmal verheiratet gewesen, aber seine Frau war vor vielen Jahren gestorben, einfach still und leise aus dem Leben hinausgeglitten und hatte ihn allein zurückgelassen. Seitdem hatte er sich in dem alten Gebäude eingenistet, das er kaum noch verließ.
Generationen von Polizeianwärtern hatten mit ihm zu tun gehabt, und hätten, wären sie länger als nur ein, zwei Jahre geblieben, eine allmählich hervortretende Metamorphose beobachten können, die ihn immer maulwurfähnlichere Züge hatte annehmen lassen.
Als er nun Amanda durch seine dicken Brillengläser anstarrte, waren seine Augen ganz klein und nutzlos.
»Schau an, schau an«, sagte er mit seltsam heiserer Stimme, »die Amanda besucht den alten Maulwurf in seinem dunklen Reich. Bringst du denn auch etwas vom Tageslicht mit in meine finstere Höhle?«
»Guten Tag, Maulmann«, sagte sie und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Könntest schon etwas Licht gebrauchen, nicht wahr?«
Maulmann schüttelte den Kopf. »Hier liegen viel zu viele Leichen herum. Die vertragen kein Licht. Die müssen im Dunkeln vermodern und allmählich zu Staub zerfallen. Erst dann kann man ihre Akten schließen.«
»Das klingt ja gruselig«, sagte Amanda, die sich in der trockenen Luft, die in den Räumen herrschte, nicht recht wohlfühlte. »Aber vielleicht hast du recht.«
Maulmann musste plötzlich husten. Ein trockener, intensiver Reizhusten, der ihn richtiggehend schüttelte. »Zu welcher meiner Leichen soll ich dich denn führen?«, fragte er, als er sich einigermaßen erholt hatte.
»Wenn ich das nur wüsste«, seufzte Amanda. »Vielleicht gibt es gar keine Leiche. Aber da muss etwas in den frühen 70ern hier in der Gegend passiert sein. Genau genommen suche ich nach einer Person, die in dieser Zeit verschwunden ist.«
»Nach verschwundenen Menschen zu suchen, ist immer schwierig. Vor allem, wenn der Zeitpunkt des Verschwindens so lange zurückliegt.«
»Warst du damals schon hier? In den 70ern.«
Wieder hatte der alte Maulwurf einen Hustenanfall. Amanda Wouters stellte sich an ein Fenster und öffnete es einen Spalt weit. Ein Sonnenstrahl fiel herein, in dessen Licht
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