Roter Herbst - Kriminalroman
Gebrüllt hatte er wie ein Tier, als ihn die Männer in die Mangel genommen, ihn an den Eiern gehabt hatten. Und genau das war er gewesen: ein dummes, verkommenes Tier. Warum hatte er nicht geredet? Am Schluss hatten selbst die Schattenmänner seine Schreie nicht mehr ausgehalten und ihn vom Haken gelassen. Hatten ihn verrecken lassen … Was für Schwächlinge.
Damals hatte er geglaubt, dass alles vorüber wäre, wenn er nur verreckt war. Dass er keinen Schaden mehr anrichten würde. Aber es war ein Fehler gewesen, dass sie ihn in den Baum gehängt hatten. Sein Fehler. Sie hätten ihn einfach irgendwo im Moor verschwinden lassen sollen. Dann hätte kein Aas nach ihm gefragt. Und die Polizei hätte sich nicht eingemischt.
Aber jetzt war die Zeit gekommen, um endgültig reinen Tisch zu machen. Auf keinen Fall würde er warten, bis Amanda Wouters oder der andere Polizist kamen, um ihn zu holen.
Magnus Berger erhob sich. Etwas mühsam kniete er sich hin, schlug den Teppich zurück und begann, eines der Dielenbretter darunter zu lösen. Aus dem Hohlraum, der frei wurde, entnahm er eine großkalibrige Pistole, die in einen ölgetränkten Lappen eingewickelt war. Dazu ein Päckchen Munition. Einen Moment wog er die Waffe in der Hand, dann setzte er das Dielenbrett wieder an seinen Platz und strich den Teppich darüber glatt.
Als er hochschaute, blickte er geradewegs auf das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto, das neben dem Kruzifix hing. Die dunklen Augen seines Vaters erfassten ihn. Er würde gutheißen, was er zu tun im Begriff war.
Er steckte Waffe und Munition in seinen Rucksack. Dann ging er, den Jungen zu wecken.
27
Es war nur ein Bild, kaum eine Erinnerung. Und dabei wusste sie nicht einmal, ob das Bild echt war. Sie befand sich in einem leeren Raum, und um sie herum türmten sich Körper ohne Konturen und ohne Gesichter und ohne Augen, lagen zu ihren Füßen, und sie stand hoch erhoben über den Körpern und stach mit einem langen, spitzen Messer immer und immer wieder auf die vor ihr Liegenden ein. Sie wollte hören, wie sie schrien und flehten, wollte sehen, wie das Blut aus ihnen herausspritzte, aber nicht der geringste Laut war zu vernehmen und kein Blut war zu sehen. Vielleicht war es nur ein Traum oder ein Märchen. Ein Märchen, in dem sie selbst vorkam …
Der Alte hatte ihr in all den Jahren immer mal wieder Bücher zum Lesen gebracht. Alle in einer fremden Sprache geschrieben, an die sie sich schon längst gewöhnt hatte … Märchen waren ihr immer am liebsten gewesen. Sie wusste nicht warum. Darüber hatte sie nie nachgedacht. Auch in diesem Moment dachte sie nicht darüber nach.
Aber jetzt stand das Bild vor ihren Augen, und sie wusste, dass es damit zu tun hatte, dass der Junge den Mann hereingebracht hatte. Der war halbtot gewesen, und der Junge hatte gesagt, er würde ihn töten. Aber sie wollte nicht, dass er starb … Seine Augen waren ohne Schuld. Sie hatte seine Augen gesehen, als sie ihm etwas zu essen und trinken gebracht hatte. Er hatte sich bedankt, und sie hatte gewusst, dass er keiner der Männer war, die ihr wehgetan hatten. Keiner von denen, die sie damals genommen hatten wie ein Stück Vieh, die ihr Leben gestohlen hatten …
Damals … es ist ein lauer Sommerabend, die Mannschaftskantine ist noch sonnenwarm. Bier fließt in Strömen. Seit einigen Stunden ist Dienstschluss. Wochenende.
Den ganzen Tag über hat sie gespürt, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt. Sie weiß nicht, was sie denken soll. Ob es an der Schwüle des frühen Abends liegt? Wie immer ist sie die einzige Frau im Lokal, von der Wirtin abgesehen, die ist aber alt und fett. Auch die Soldaten, die nicht nach Hause oder zu ihren Freundinnen gefahren sind und seit Dienstende herumhocken und trinken, scheinen die besondere Atmosphäre dieses Abends zu spüren. Sie ziehen sie mit ihren Blicken aus, ungehemmter als sonst, versuchen, sie bei jeder Gelegenheit, immer und immer wieder, zu berühren und zu betatschen. Sie lacht dazu, zwängt sich trotzig zwischen den Körpern schwitzender Männer hindurch, bringt ihnen zu trinken und nimmt dabei jede ihrer verstohlenen oder grob zupackenden Berührungen wahr. Es gehört dazu. Sie ist jung, und sie liebt die Männer und die Männer lieben sie. Sie, die Russin …
Heute hätte sie die freie Auswahl. Sie kann es in ihren Augen lesen, dass sie sie begehren … und in ihren Träumen weiß sie, wen sie in ihre Kammer mitnehmen würde.
Nur vor der Gruppe der
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