Roter Lampion
und der eigentliche Kanal seinen Anfang nahm.
»Guten Morgen, Herr Langschläfer«, begrüßte ihn Margit Holstein, die bereits nach ihm Ausschau gehalten hatte. »Erstaunlich, daß Sie überhaupt aufgestanden sind.«
Er warf einen Blick auf die Deckuhr. »Es ist doch erst sechs!«
Sie lächelte. »Gut geschlafen?«
»Saumäßig!« brummte er unwirsch und blickte nach Port Said zurück. »Habe ich etwas verpaßt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gehen wir auf das Bootsdeck«, schlug er vor. »Von dort aus können wir auch nach vorne sehen.«
Margit Holstein war einverstanden, und so stiegen sie zum nächsthöheren Deck hinauf, wo sie mit Freude feststellten, daß sich dort noch niemand aufhielt.
Der vor ihnen liegende, wie mit einem Lineal gezogene, etwa achtzig Meter breite Kanal machte einen unwirklichen Eindruck, der nicht zuletzt dadurch hervorgerufen wurde, daß dreißig bis vierzig im Konvoi durch eine Wüstenlandschaft fahrende Ozeandampfer zwangsläufig einen absonderlichen Anblick bieten.
Der Wüstensand wehte bis zum Schiff hinüber. Kein Baum, kein Strauch, kein Halm war zu sehen. Nur hin und wieder gab es winzige Haine, die in der Nähe eines Brunnens entstanden waren. Sie wirkten wie bekleidete Weiße inmitten nackter Neger.
Je länger das Schiff fuhr, um so unwirklicher wurde das Land. Alles sah krank aus, sogar der Sand, der schmutzigen Totenlaken glich. Ober ihn hinweg fegte der Atem der Hölle, der schließlich auch Gordon Cooper und Margit Holstein zwang, sich in das Innere des Schiffes zurückzuziehen. Fast fünfzig Grad heißer Wind wirbelte glühende Sandfontänen durch die Luft.
Und dann glaubten sie ihren Augen nicht trauen zu dürfen: Ein Kriegerdenkmal mit den Jahreszahlen 1914 – 1918 glitt an ihnen vorüber. Also auch hier hatte die Krone der Schöpfung gekämpft, und breite Freitreppen verbrämten nun ein sinnlos gewesenes Morden.
Unwirklich erschien alles. Unwirklich das Land, das nur Wind und Sand, Hitze und Kälte kennt. Unwirklich das Schiff, das geruhsam die Wüste durchquert. Unwirklich Margit Holsteins Erzählung von ägyptischen Pharaonen, die bereits vor dreieinhalb Jahrtausenden einen Kanal vom Nildelta zum Golf von Suez hatten graben lassen.
Sandstürme, die aus Strahlgebläsen zu kommen schienen, verdunkelten zeitweilig das Licht des Tages und ließen die Sonne wie eine braunrote Scheibe am Himmel stehen. Die Luft knisterte vor Trockenheit. Apathie breitete sich aus.
»Das ist ja zum Verrücktwerden«, stöhnte Gordon Cooper, der Margit Holstein nicht den Wunsch hatte abschlagen mögen, mit ihr noch einmal ins Freie zu gehen.
»Ich verstehe dich nicht«, entgegnete sie mit einer wie aus weiter Ferne kommenden Stimme. »Das alles gehört doch dazu! Wer vor solchen Erlebnissen flüchtet, dem werden sich vergangene Zeiten niemals erschließen. Was glaubst du, was ich jetzt sehe? Stürme politischer Art, die Luxor, Karnak und Theben zum Verhängnis wurden.«
Cooper betrachtete sie überrascht von der Seite. Ihr Haar flatterte wie eine Fahne. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie nach Westen, wo Luxor, Karnak und Theben liegen mochten. Ihre schmalen Nasenflügel vibrierten. Sie könnte Hatschepsut sein, dachte er und empfand plötzlich eine übermächtige Zuneigung zu ihr.
Später, als der Bittersee durchfahren und der Sturm zu einem linden Säuseln abgeflaut war, freute sich Gordon Cooper, daß er auf Margit Holstein gehört hatte. Er wußte nun, wie wertvoll es ist, seine Umwelt mit Gedanken zu beleben, und als die Sonne sich am Abend wie ein glühender Ball dem Horizont näherte, da hörte er im Geiste seinen alten Schullehrer Verse des ägyptischen Königs Echnaton deklamieren, der allen Göttern entsagt und die von ihm zum einzigen Gott erhobene Sonne mit den Worten gepriesen hatte: ›Die Erde und die Menschen sind in deiner Hand. Bist du aufgegangen, so leben sie. Sinkst du hinab, so sterben sie. Du selbst bist das Leben. Man lebt durch dich.‹
6
Es war schon Nacht, als sich die ›Bayeiti‹ dem Ende des Kanals näherte. Das Dinner war vorüber, und die Passagiere standen erwartungsvoll an der Reling, um Suez zu sehen und das Übersteigen von Ivo Sorokin zu beobachten, der während der Fahrt an Bord kommen mußte, da das Schiff für ihn nicht eigens gestoppt werden konnte. Der Himmel war sternklar und die Natur so friedlich, daß man versucht war zu glauben, die Nacht wünsche einen Ausgleich für die Willkür des Tages zu schaffen. Am
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