Roter Regen
Pflichten nach.
* * *
Bärbel bemerkte erst jetzt, dass sie mit ihrem Wagen wieder vor
Killians Atelier stand. War sie etwa nur im Kreis gefahren? War er tatsächlich
der Einzige, an den sie sich jetzt wenden konnte? Sie würden sich wieder
streiten, da war sich Bärbel sicher. Und diesmal würde es von ihr ausgehen. Sie
war wütend und brauchte ein Ventil.
Bärbel stieg aus dem Wagen und kletterte die Rampe hoch, dann
klopfte sie an der hölzernen Schiebetür. Es öffnete niemand, aber Bärbel
bemerkte, dass die Tür nicht verschlossen, sondern nur zugeschoben war, und zog
sie auf.
»Killian? Hallo?« Es rührte sich nichts. Sie trat ins Atelier und
schob die Tür wieder hinter sich zu.
Killian war nicht da. Bärbel sah sich um. Sie fühlte sich wohl,
alles war vertraut und doch anders. Das barocke Sofa hatte Killian noch aus
seiner Zivildienstzeit, als er nebenher mit Trödel gehandelt hatte. Ein kleines
Holztischchen aus Tanne erkannte Bärbel ebenfalls wieder. Und den Bürodrehstuhl
aus Buche, der vor der Computeranrichte stand. Quer durch das Atelier war eine
Wäscheleine gespannt, an der entwickelte Schwarz-Weiß-Fotografien trockneten.
Sie besah sich die Fotos, die Killian offenbar während der Regenzeit
geschossen hatte. Beim Betrachten der Fotos überkam sie sofort der Wunsch,
Musik zu hören. Sie hoffte, dass Killian seine Plattensammlung noch besaß, und
blickte sich suchend im Atelier um. Instinktiv steuerte sie auf die Ecke zu, in
der sie Killians Schätze vermutete. Der Plattenspieler war sogar noch an.
Killian musste selbst bis vor Kurzem noch Musik gehört haben. Bärbel lupfte den
Tonarm, ohne zu gucken, welche Scheibe auf dem Teller lag, und kehrte wieder zu
den Fotos zurück.
Über die vier Boxen, die das Atelier von der Decke aus beschallten,
erklang erst das Kratzen einiger Leerrillen, dann ertönte das Altsaxophon von
Charlie Parker. Der berühmte Livemitschnitt »Bird At St. Nicks« erfüllte den
Raum und trieb in Kombination mit den Regenfotos Bärbel die Tränen in die
Augen. Endlich konnte sie weinen. Ebenso wie der Regen aus den Fotos zu tropfen
schien, suchte sich Bärbels Schmerz über ihre Wangen einen Ausgang.
Die Schiebetür rollte laut zurück, Bärbel schrak herum. Es war
Killian, der verdutzt im Eingang innehielt. Im Arm trug er eine Plastiktüte,
offenbar mit Lebensmitteln. Hinter ihm erhellte eine Straßenlaterne bereits die
Dämmerung.
Bärbel wollte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen wischen,
aber Killian warf ihr vorsorglich ein Päckchen Papiertaschentücher zu. Sie fing
es auf und lächelte unmerklich. Dann riss sie das Päckchen auf und schnäuzte
sich.
»Bird rührt mich auch immer wieder«, lächelte Killian. Er hatte noch
immer ein schlechtes Gewissen und gab sich Mühe.
»Die Fotos sind gut«, Bärbel zog die Nase hoch, »aber traurig, wie
immer.«
Killian stellte die Einkaufstüte auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa
ab und kramte darin herum. »Das ist das Klischee des Regens und das
Schwarz-Weiß. Außerdem ist die Musik kein Dixieland«, versuchte Killian Bärbels
Einschätzung zu entkräften. Er zog eine Flasche Wein heraus und suchte unter
den Kissen des Sofas nach dem Korkenzieher.
»Du könntest eine Hochzeit in strahlendem Blütenmeer auf Hochglanz
fotografieren, und wenn wir dann die Abzüge betrachten würden, könnten wir ›Oh
when the saints‹ hören – im Grundton wäre es dennoch traurig, weil wir bereits
fürchteten, dass die Idylle in Scherben zerbräche, sobald wir unseren Blick vom
Foto nähmen …«, sagte Bärbel.
Killian hatte den Korkenzieher gefunden und öffnete die Flasche mit
dem charakteristischen Sound, der gegen den Rhythmus der Musik ploppte.
»Trinkst du mit?«
Bärbel zögerte kurz, dann nickte sie. Was sollte sie sich in
fadenscheiniger Askese üben? Ihr war nach Wein und nach Killians Fotos, samt
Charlie Parker. Es bedeutete ein Stück Heimat, die sie einst besessen hatte.
»Weißt du, warum sie Charlie Parker ›Bird‹ nannten?«, fragte
Killian, während er zwei Gläser füllte.
»Weil er einen Vogel hatte? Er ein bunter Vogel war? Er gerne
gevögelt hat?«
Killian blickte gespielt streng und reichte Bärbel eines der Gläser.
»Bird kommt von Yardbird, das bedeutet so viel wie Sträfling und kommt von
Galgenvogel. Diesen Namen gibt man Leuten, die keine Chance auf Entkommen haben
und irgendwann im Topf landen … Cheers.« Sie stießen an und kosteten den Wein.
Bärbel hob entzückt die
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