Roter Regen
den
Kopf zu heben.
Belledin schüttelte den Kopf und war auf sich selbst wütend. Er
hatte zwar mitbekommen, dass sein einstiges Filmparadies verschwunden war, aber
erst jetzt, da er nach langer Zeit wieder davorstand, wurde ihm richtig
bewusst, was er verloren hatte: »Seit wann ist der Laden geschlossen? Warum war
ich schon so lange nicht mehr hier? Was ist mit Paul Zacher?«, murmelte er. Das
wäre schon wieder ein neuer Fall für sich: »Der Tod des Filmprofessors«.
Ein Zwerg mit einer Horrormaske riss Belledin aus seinen Gedanken.
Der Knirps kam von seinem Vater an der Hand geführt aus dem Laden und brüllte
wie am Spieß. Die Ladentür fiel unter Knarzen wieder zu. Belledin sprang ein
Plakat in den Blick, das an die Eingangstür des Geschäfts geklebt war: »Lesung
mit Maria Bava aus ihrem neuesten Roman: ›Die Erbin Draculas‹, Samstag, 25.09.,
21 Uhr«, daneben ein Foto des Buches und der Autorin.
Belledin stutzte. Das Foto auf dem Plakat zeigte das Gesicht von
Anke Prückner. Und nicht nur der Name war anders, auch der Titel des Buches.
Belledin wusste nicht, ob er darüber enttäuscht sein sollte. Aber er würde die
Gelegenheit wahrnehmen und zur Lesung gehen. Nicht nur, weil er Anke Prückner
wiedersehen wollte, er ahnte auch, dass jemand, der Namen und Titel änderte,
wie es ihm passte, es auch mit der Wahrheit nicht immer so ernst nahm. Und die
wollte Belledin unbedingt herausfinden. Er hielt inne. Wie ernst und nüchtern
nahm er selbst noch seine Arbeit? Warum war er hierhergekommen? War es
kriminalistische Intuition gewesen, Anke Prückner doch nachhaltiger zu
hinterfragen, oder verliebte Schwärmerei, die ihn in auf die Fersen dieser Frau
trieb? Er musste aufpassen.
Er blickte auf seine Armbanduhr und entschloss sich, nach Bötzingen
zu fahren. Er würde nicht warten, bis Dr. Merz seine Sportschau zu Ende geguckt
hatte, sonst würde er es zeitlich nicht mehr zur Lesung schaffen. Während des
Fußweges zum Auto telefonierte er noch rasch mit Biggi, um ihr zu sagen, dass
sie mit dem Abendessen nicht auf ihn warten müsse, es würde sehr spät werden.
Als Belledin auflegte, fragte er sich, wie oft er dieses Telefonat schon
geführt hatte. Die Worte kamen ihm vor wie der ewig wiederkehrende Text einer
Telenovela. Es hatte sogar Tage gegeben, da hatte er nur die ersten Worte
seiner Zeilen sagen müssen und Biggi hatte die Zeile selbst beendet. Heute
hatte sie ihn aber aussprechen lassen. Warum? Hatte etwa der Sound eines
schlechten Gewissens in seiner angekratzten Stimme mitgeschwungen, der Biggi
hatte aufhorchen lassen? Aber wieso sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Da
hatte es in ihrem Eheleben schon ganz andere Situationen gegeben, die deutlich
unter die Rubrik Seitensprung gefallen waren, bei denen Belledin sich überhaupt
nicht schuldig gefühlt hatte. Für ihn war die sexuelle Begierde Ausdruck seiner
Männlichkeit, und wenn sie erwidert wurde, dann geschah dies nach den Gesetzen
von Mutter Natur. Moralapostel hatten daran gar nichts zu rütteln. Und wenn
Biggi was mit einem anderen gehabt hätte in all den Jahren, was Belledin nicht
hoffte, er hätte es ertragen können.
Seine Gedanken landeten wieder bei Anke Prückner. Oder sollte er sie
nun Maria Bava nennen? Der exotischere Name war für Belledin auch gleich der
erotischere. Er entschied sich für Maria Bava. Aber warum nannte sie sich so?
Jeder Künstlername hatte eine Bedeutung. Man nahm sich Namen nicht einfach so.
»An seinem Namen wirst du ihn erkennen«, brummte Belledin.
»Die Erbin Draculas …«, grollte Belledin laut und fletschte dabei
die Zähne. Dann riss er seinen Mund weit auf und ließ die Zunge heraushängen,
um zu hecheln wie ein dürstender Straßenköter. Er musste über sich selbst
lachen, schüttelte den Kopf und begann die trödelnden Autofahrer vor ihm
nacheinander mit lockerem Fußgelenk zu überholen.
* * *
Leyla Melek konnte es nicht fassen. Sie mochte nun schon eine halbe
Stunde so dagestanden haben: die Hände gegen das Gesicht gepresst, die Augen
weit aufgerissen und immer wieder nach Worten suchend; egal, ob nach türkischen
oder deutschen. Es war der zweite Tote, den sie innerhalb von anderthalb Wochen
gefunden hatte. Bei beiden hatte sie die Praxisräume geputzt, und beide waren
anständig zu ihr gewesen. Warum mussten solche Menschen auf so grausame Weise
sterben?
Sie sah Dr. Merz nach, wie er auf einer Bahre fortgetragen wurde,
dann starrte sie auf die rothaarige Frau, die schwitzend, mit
Weitere Kostenlose Bücher