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Roter Regen

Titel: Roter Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moritz
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als Kölner dem Savoir vivre der Franzosen näher fühlte als dem badischen
Blues. Daran war nichts zu ändern. Er hatte sich selbst oft gewundert, wie
lange es ihm gelungen war, die hiesige Kundschaft zu ertragen. Alles musste man
ihnen aus der Nase ziehen. Eine Anamnese zu erstellen dauerte manchmal Stunden.
Der Badener erzählte nicht gerne über seine Gewohnheiten, das ging niemanden
etwas an. Wofür sollte es gut sein, dem anderen zu erzählen, wann man ins Bett
ging und wie viel Kaffee man trank? Ob man sich bewegte oder sich nach der
Toilette die Hände wusch? Und wehe, der badische Patient musste aufzahlen,
obwohl er doch pünktlich und ordentlich Kassenbeiträge leistete. Dann saß er
mit verschränkten Armen in der Praxis und weigerte sich, Platz für den Nächsten
zu machen, beleidigt wie ein Indianer, dem man das Feuerwasser verwehrte, mit
dem man ihm das Reservat schmackhaft gemacht hatte.
    Merz wusste nicht, warum all diese Gedanken in seinem Kopf spukten.
Aber es war ihm mit einem Mal, als müsste er Resümee ziehen – und er merkte
dabei, wie wenig unterm Strich blieb. Und wenn sein erwirtschaftetes Geld nun
obendrein in rumänischen Labyrinthen versickerte, dann blieb ihm gar nichts
mehr.
    Er fluchte über sich und seine Naivität, über seine Raffgier und
seine Frau, die ihn dazu getrieben hatte, mit ihren innenarchitektonischen
Träumen und Wünschen der weiblichen Selbstverwirklichung. Aber am meisten
verfluchte er Hartmann, und er hätte ihn in dem Moment am liebsten selbst
erwürgt, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Stattdessen wählte Merz eine
andere Nummer und war überrascht, dass jemand den Anruf entgegennahm.
    * * *
    Nachdem Belledin mit Merz’ Frau telefoniert hatte und sie ihm
empfohlen hatte, erst gegen zwanzig Uhr, nach der Sportschau, vorbeizukommen,
hatte sich Belledin einen Stadtbummel durch Freiburg genehmigt. Er mochte den
Samstagnachmittag in der Innenstadt. Biggi jammerte immer, es wäre ihr zu voll,
Belledin hingegen wähnte sich dann in New York. Vor allem wenn er an der Ampel
des Freiburger Stadttheaters stand, duplizierte er in seiner Phantasie die
wartenden Fußgänger und genoss den Impuls eines gemeinsamen Starts, sobald die
Ampel auf Grün sprang. Er hasste Frühstarter, die der individuellen Hast dem
Gemeinschaftsgefühl Vorrang gaben. Manchmal konnte es sein, dass Belledin sogar
drei Ampelphasen wartete, bis er das Gefühl hatte, in der richtigen Gruppe zu
stehen.
    Auch diesmal ließ er die erste Gruppe ziehen. Obwohl sie durchaus
nach seinem Geschmack hätte sein können. Keine Trödler, keine Vorsprinter –
vielmehr ein homogener Schwarm, der es wert gewesen wäre, aus der
Vogelperspektive fotografiert zu werden. Aber an Belledin ging der Genuss
vorbei, er hatte einen anderen Schwarm, der ihm den Kopf verdreht hatte: Anke
Prückner, geboren am 20. August 1980 in Bielefeld. Studentin der Germanistik
und Literatur an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im sechsten Semester.
Nebenbei absolvierte sie eine private Ausbildung in psychotherapeutischer
Heilpraktik bei dem ermordeten Hartmann und der von Buddha erschlagenen Christa
Faller – und sie schrieb Bücher mit Titeln, die Belledin gefielen.
    Er wollte mehr über Anke Prückner wissen. War sie liiert? Was würden
ihre Texte über sie verraten? Belledin entschied, sich in die Buchhandlung
Flesh&Blood aufzumachen. Er nutzte die Woge der nächsten Grünphase, obwohl
die Gruppe ein zerfledderter unrhythmischer Haufen war, und nahm die Abkürzung
über das Universitätsgelände.
    Ein Hauch von Wehmut umgarnte sein Gemüt, als er vor dem
Schaufenster des Ladens stand. Hier war dreißig Jahre lang die beste
Filmbuchhandlung der BRD gewesen,
obwohl Freiburg medientechnisch immer einer Wüste geglichen hatte. Bei Paul
Zacher hatte Belledin Filmgeschichte studiert und gleichzeitig erkannt, dass er
Polizist werden musste. Es waren die amerikanischen Movies gewesen, die ihn
dorthin gebracht hatten, wo er nun stand. Aber es war auch Paul Zacher selbst
gewesen, der Belledin stets ermahnt hatte, nicht die andere Seite zu wählen,
obwohl deren Helden meist viel attraktiver waren. James Cagney war selten ein
guter Cop gewesen, ihn musste man als Ganoven lieben. Und wenn Belledin einmal
von einer Kugel getroffen werden würde, dann würde auch er sich wie Cagney in
»Public Enemy« vor die Treppen einer Kirche oder des Justizgebäudes schleppen,
um dort im Scheinwerferlicht eines vorbeirauschenden Autos das letzte Mal

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