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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul J. McAuley
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wir was gemeinsam.«
    Chen Yao zog eine Schnute, jetzt völlig ihrem Alter
entsprechend.
    »Wir werden diesem Mann einen Besuch abstatten, und dann
werden wir deine Freunde suchen.«
    »Du weißt überhaupt nichts«, sagte Chen Yao
erneut.
    »Ich kenne diese Stadt, ein wenig. Es wird nicht viel Zeit
benötigen.«
    Stadtpläne senkten sich in seinen Kopf, gingen ineinander
über. Einer war von den Viren geschrieben, der andere aus seinen
eigenen Erinnerungen zusammengeflickt. Er ging die Nördliche
Avenue hinab, mit Apartmenthäusern auf der einen Seite und den
langen niedrigen weißen Häusern der Halblebenden in einem
schmalen Park auf der anderen. Die Nördliche Avenue führte
den ganzen Weg zum Ersten Haus des Kaisers, aber er wäre bald in
der Lage, eine Abkürzung über den Park des Zentralsees zu
nehmen und Falkes Haus zu suchen. Er benötigte keine Viren, die
ihm das sagten.
    Aber beim Gehen entdeckte Lee wieder, was er längst vergessen
hatte: daß das Gehen in einer Stadt weitaus erschöpfender
ist als das Gehen in der ungezähmten Landschaft. Es bestand
keine Möglichkeit, den Rhythmus langer Schritte aufzubauen, die
den Raum fraßen, denn alle paar Meter erfolgte eine neue
Ablenkung: ein fetter, hemdloser Mann, der in einer Tür stand
und einen Stumpen mit einem derartigen Gestus von wohltuender
Zufriedenheit rauchte, daß Lee glauben mochte, er wäre der
wirkliche Besitzer der Stadt und genösse es, ihr dabei
zuzusehen, wie sie rings um ihn her erwachte; ein Polizist mit
weißen Handschuhen, der den Verkehr an einer Kreuzung lenkte,
wütend auf seiner silbernen Pfeife auf Schwärme achtloser
Radfahrer einblies; Bettler, die in einer Reihe unter einer
blühenden Hecke saßen; ein Mann, der mühselig im
Schneckentempo in die Pedale trat und einen Karren mit einer
rechteckigen Kiste zog, die so groß wie Lee war; eine
Straßenbahn, so beladen mit Fahrgästen – sie hingen
aus den Fenstern heraus, standen auf den Trittbrettern, füllten
das Dach und klammerten sich sogar an den Keil ihrer
Stoßdämpfer –, daß es so aussah, als würde
eine Menschentraube ohne sichtbares Transportmittel dahingleiten.
    Die Straßenbahn fuhr langsam, weil so viele Menschen von den
breiten Bürgersteigen auf die Straße sprangen. Etwas
verknotete sich in Lees Brust. Er wußte, daß dies keine
gewöhnliche Menge zur Rush Hour war, noch ehe er die Grenzen des
Parks des Zentralsees erreicht hatte und die Soldaten sah.
    Einige standen am Rand des Parks aufgereiht. Weit mehr tummelten
sich auf dem staubigen Gras und dem Rand des großen Sees, dem
drittgrößten offenen Gewässer des Mars. Fahrzeuge
waren überall geparkt. Eine Friedenstaube stieg von der
Jadeinsel im Zentrum des Sees auf. Rings um Lee und Chen Yao johlten
und höhnten die Menschen.
    Die Soldaten sahen gleichmütig zu. Trotz der Dichte der Menge
benutzte niemand den Bürgersteig, der an der Grenze des Parks
entlanglief, weil die Soldaten auf der anderen Seite standen. Sie
waren in schwarzes Leder gekleidet, trugen durchsichtige
Plastikschilde, die ebenso groß waren wie sie selbst. Ihre
Gesichter waren maskiert; die Masken hatten ausgestülpte
Gläser und komplizierte Verkleidungen, die sich nach hinten
schwangen und in die Schädel der Soldaten hineinwuchsen. Aus der
Menge flog den Soldaten ein Hagel von Gegenständen zu –
Flaschen, Steine, sogar ein gelegentlicher Schuh –, aber die
Soldaten regten sich nur, um Geschosse mit ihren Schilden abzufangen.
Die Menge brüllte, als rote Farbe über die Schilde der
Soldaten spritzte.
    Chen Yao zupfte Lee an der Hand. »Siehst du! Siehst
du!«
    Sie war den Tränen nahe, und das, mehr als die Soldaten oder
der Mob, dem sie gegenüberstanden, war es, was Lee
erschreckte.
    »Du hättest mir folgen sollen!« jammerte Chen
Yao.
    »Verschwinden wir von der Straße«, sagte Lee und
faßte sie an der Hand.
    Als er jedoch versuchte, im Zickzack durch die Menge zur anderen
Seite der Avenue zu kommen, wurde er von einem Wirbelsturm von
Menschen gepackt, die ihn in die eine Richtung trugen und Chen Yao in
eine andere. Lee kämpfte sich frei und mußte einer
überfüllten Straßenbahn ausweichen, die
unablässig die Klingel ertönen ließ, während sie
mitten durch die Menge kroch, die hinter dem Park an Lee
vorbeistürmte und auf das weite Rechteck des Platzes des
Himmlischen Friedens herausquoll.
    Es schien, daß die Hälfte der Einwohner der Stadt
bereits dort war. Menschen strömten über den weiten Raum
auf die hohen weißen

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