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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul J. McAuley
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einen Blick auf seine
Ränder erhascht.
    Lee umklammerte das schwere Material des Brokatgewands mit beiden
Fäusten. Er fühlte sich, als schwebte er über einem
großen schwarzen Abgrund. Weil es, trotz der Schutzbrille,
welche ihm die Götter während seines Schlafs aufgesetzt
hatten, alles ein schreckliches Wahnsystem sein konnte, das er
aufgebaut hatte im Versuch, das zu rationalisieren, was ihm
zugestoßen war. Sein Gesichtsverlust im Danwei von
Bitterwasser, sein Leben als Flüchtling, das jähe
verzweifelte und traurige Gewicht der Erinnerung an die Ermordung
seiner Eltern…
    Er hatte den ›King of the Cats‹ stets geliebt, hatte das
langsame Sterben des Mars stets gehaßt. Und er hatte
geträumt, daß ihn der King dazu rekrutiert hatte, den Mars
zu retten… diese verrückte Geschichte über
Jupiters Ring, über Viren, die Wasser schmelzen würden, die
Himmel draußen mit mikroskopischen Treibhausgas-Fabriken
erfüllen würden…
    Er erinnerte sich an alles so deutlich! Jetzt jedoch, da er
erwacht war, war ihm Miriam entglitten. Mehr denn je wünschte
sich Lee, sie möge ihm erscheinen: selbst ihre vorherigen
Manifestationen konnten nichts weiter als Halluzinationen gewesen
sein. Angenommen, die Viren hatten ihre teilweise Persönlichkeit
schließlich nicht übertragen, sondern einfach sein Gehirn
beschädigt?
    »Ich bin nicht wahnsinnig«, flüsterte er in das
Kissen unter seiner Wange. »Ich werde nicht wahnsinnig
werden…«
    Das kleine Mädchen, Chen Yao, war am Fuß des Sessels
zusammengerollt. Nur zwei andere Götter verblieben: eine alte
Frau mit weißem Haar, das in einem dicken Zopf
zurückgekämmt war, und ein stämmiger junger Bursche in
sauberer, jedoch abgetragener Kleidung. Beide traten vor und
verneigten sich vor Lee, der sofort herabsprang, über allen
Maßen hinaus verlegen.
    Chen Yao streckte sich und sagte: »Was soll dieser ganze
Lärm? Hast du das Gespräch mit deinen Freunden
beendet?«
    Lee sagte langsam: »Ich habe geträumt. Ein solch
merkwürdiger Traum. Ich erinnere mich seiner sehr
deutlich.«
    »Natürlich tust du das. Du solltest dich seiner
erinnern.«
    »Du weißt, was ich geträumt habe?«
    Chen Yao streckte sich erneut und gähnte mit dem raschen
unbefangenen Reflex einer Katze. Sie sah wie jede verschlafene
Vierjährige aus, die Augen gequollen, das Haar auf einer Seite
wie ein Fächer hochgeschoben. »Ich habe deine Vision
geteilt«, sagte sie. »Dies ist mein Kennzeichen. Ich
spreche mit jenen, die du trägst, mit der Frau und mit der
Gottheit.«
    Lee lachte. Wenn Chen Yao es wußte, dann stimmte am Ende
vielleicht doch alles! Oder sie war vielleicht ebenso verrückt,
wie er zu sein glaubte. Ein armes verrücktes kleines
Mädchen, von den Fischern als Göttin verehrt.
    Chen Yao sagte: »Sei nicht dumm. Wir enthalten Fragmente,
aber du bist der Avatar einer gesamten Gottheit. Du bist unser
Erlöser, Wohltäter der Menschen, Lee.«
    »Nein«, sagte Lee. »Nein, ich weiß nicht, ob
ich es bin.«
    »Bitte! Ich bin ein Niemand ohne Herrn! Ich bin nicht einmal
Herr meines eigenen Lebens!«
    Die alte Frau sagte: »Mit sieben habe ich mich dem Lernen
hingegeben. Mit fünfzehn war ich fest begründet. Mit
zwanzig hatte ich keine Zweifel mehr. Mit fünfundzwanzig kannte
ich den Willen des Himmels. Mit dreißig war ich bereit, darauf
zu hören. Mit fünfunddreißig konnte ich meinem
Herzenswunsch folgen, ohne das zu übertreten, was rechtens
war.«
    »Lao«, sagte Lee und verneigte sich vor der alten
Frau. »Ich bin noch immer jung genug, um viele Zweifel zu
haben.«
    »Aber du kennst den Willen des Himmels«, sagte Chen
Yao.
    »Wirklich?«
    »Dummer Mann«, sagte Chen Yao. »Deine Vision hat
natürlich alles erklärt.«
    Lee dachte, daß sie alles oder nichts erklärte. Sie war
ebenso vollkommen und zerbrechlich wie eine Seifenblase.
    Chen Yao klatschte die Hände mit einer seltsamen Mischung aus
kindischer Aufregung und Arroganz zusammen. »Nun komm
schon«, sagte sie, »wir müssen unsere Reise beginnen!
Wir müssen uns unseren Freunden anschließen!«

 
     

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39
     

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    Die Götter gaben Lee sein Chuba, Hemd und die schwarzen Jeans
zurück. Alles war gewaschen, getrocknet und gebügelt
worden. Lee fand, daß sein Geld aus der zugeknöpften
Tasche seines Hemds verschwunden war, aber er glaubte nicht,
daß die Götter es genommen hatten. Vielleicht war es
verlorengegangen, als die Rikscha verunglückt war (also hatte
der Fahrer womöglich seinen Lohn erhalten

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