Roter Staub
San
vor. Er hatte ein glänzendes rundes Gesicht, glänzendes,
zurückgekämmtes Haar und eine nervöse, aggressive
Aura. Er fragte: »Was hast du uns da mitgebracht, Xiao
Bing?«
»Wei Lee hat in meinem Danwei gearbeitet«, sagte
Xiao Bing.
Lao San sagte ungeduldig: »Spielt keine Rolle, wo er
herkommt. Ist er in puncto Technologie auf dem laufenden?«
»Ich bin bloß ein Agronom-Techniker. Das alles wirkt
sehr einschüchternd auf mich«, erwiderte Lee.
Lao San stach einen Zeigefinger in Lees Brust, ein derart
erstaunliches Fehlen von Manieren, daß es Lee wie gelähmt
machte. »Vergiß diesen ganzen bescheidenen
Zurückhaltungs-Scheiß! Eine neue Ordnung erhebt sich, und
die Tage der alten Benimmregeln sind gezählt! Vom
Darwinistischen Standpunkt aus gesehen sind sie als Art von sozialem
Schmiermittel für das Verhalten der Bevölkerung
nützlich, aber sie werden nicht mehr gebraucht werden, sobald
jedermanns Stellung in der Gesellschaft selbstbestimmt ist. Wenn du
der WBBM helfen willst, rückst du besser direkt damit raus, was
du kannst.«
»Aber ich weiß noch nicht mal, was ihr zu tun
versucht«, sagte Lee.
»Wir sind hier, die Wirklichkeit zu verändern«,
sagte Lao San großartig. Er schnappte sich eine dünne
Glasröhre, steckte sich die eine Hälfte unter die eigene
Nase, die andere unter Lees. Lee schreckte vor der scharfen Wolke
eines Lösungsmittels zurück, und Lao San lachte. »Du
mußt dich selbst ändern, ehe du die Zukunft ändern
kannst.«
»Was war das für ein Stoff?«
»Er wird dein Bewußtsein befreien«, sagte Lao San
und grinste dermaßen höhnisch Lee ins Gesicht, daß
er wahnsinnig erschien. Dann stolzierte er davon, um einem der
schwarzgekleideten jungen Männer eine Strafpredigt zu halten. Er
trat gegen den Projektor, den der junge Mann bediente, und
draußen, über den Köpfen der Menge, entfaltete sich
ein Slogan in gekräuseltem roten Licht in der Luft.
Xiao Bing sagte mit unverhohlener Bewunderung: »Er ist ein
ziemlich leidenschaftlicher Bursche.«
»Was war das, Gedächtnisverstärker? Ich muß
mein Bewußtsein nicht befreien.« Lee fragte sich, ob die
Droge die Viren beeinflussen würde, die in seinem Blutkreislauf
schwärmten, aber alles, was er spürte, war ein Kribbeln in
den Handflächen, das nichts weiter als Adrenalin sein
mochte.
»O nein! Selbst ich tu’ das nicht, jetzt, da ich das
Hineinsterben in meinen kleinen Teil vom Himmel beiseitegelegt habe.
Wir haben viele Sorten von Drogen, die uns helfen. Diese soll deine
Intelligenz steigern, indem sie den Synapsen erlaubt, rascher zu
feuern.«
Xiao Bing erklärte, daß Lao San Anführer dieser
Zelle der Wissenschaftlichen Befreiungsbewegung der Menschen sei. Sie
glaubten, daß die Etablierung einer Technokratie den Mars
retten würde, denn nur eine Technokratie könnte das
Terraform-Programm vollenden. Ihre Ideologie war der
Sozialdarwinismus, in dem Individuen freie Einheiten und nicht
Objekte des Zwangs der Gesellschaft wären, was in jedem Fall
eine Fiktion war, die lediglich von einer kollektiven Illusion
aufrechterhalten wurde, sondern Kräfte des freien Marktes. Die
Regierung würde abgebaut werden. Individuen, Danweis und
Industrien in Privatbesitz würden darum wetteifern, der
Bevölkerung zu dienen, und jede Person würde nur für
Dienste bezahlen, nach denen es sie verlangte. Der Wettbewerb
würde diejenigen bevorzugen, die zum Überleben am besten
geeignet wären, jene, die keine technologischen Analphabeten
seien.
»Denk doch nur mal dran, Lee, eine wahrhaft wissenschaftliche
Gesellschaft!«
»Scheint, nun, unglaublich.«
»Genau«, sagte Xiao Bing grinsend.
Lee verstand, daß Xiao Bing Guoquiang verloren, jedoch
jemand anderen gefunden hatte, dem er folgen konnte. Und mit einem
schwebenden, unbekümmerten Entzücken verstand er auch,
daß die Droge ihm diese Einsicht ermöglicht hatte. Er
sagte: »Hört sich gut an, obgleich ich nicht ganz verstehe,
wie sich diese wetteifernden Danweis miteinander verbinden
könnten, um die Terraformung des Mars zu vervollständigen.
Wer wird dafür bezahlen?«
»Oh, es gäbe eine Luftsteuer«, sagte Xiao Bing,
»oder eine Wassersteuer. Oder vielleicht beides. In diesem
Stadium sind Einzelheiten nicht wichtig.«
»Du würdest Leute dafür bezahlen lassen, einfach,
damit sie leben können?«
»Leben ist kein Recht, sondern ein Privileg. Lies unsere
Großbuchstaben-Poster, und du wirst es verstehen.
Natürlich nicht hier und jetzt. Auf jeden Fall werden wir
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