Roter Zar
waren tot. Ich habe gehört, wie einer von ihnen sagte, dass die Romanows entkommen seien.«
»Woher wollen Sie wissen, dass die Wachleute tot waren?«, fragte Pekkala.
»Weil ich am nächsten Tag gesehen habe, wie ihre Leichen in den Hof getragen wurden. Die Leichen der Romanows habe ich nicht gesehen. Daher weiß ich, dass sie geflohen sind. Das ist die Wahrheit, egal, was in den Zeitungen steht.«
Eine Weile herrschte Schweigen im Raum, nur Majakowski war zu hören, der an der Pfeife zog.
»Der Mann, der die Romanows angeblich befreit hat«, sagte Kirow schließlich. »Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
Pekkala sah zu Kirow.
Kirow wurde rot. »Ich meine …«
Anton unterbrach ihn. »Ja, was meinen Sie, Jungkommissar? Ich wusste gar nicht, dass jetzt Sie die Ermittlungen leiten.«
Majakowski verfolgte das alles wie ein Zuschauer bei einem Tennis-Match.
»Schon gut.« Pekkala wies mit einem Nicken zu Kirow. »Fahren Sie fort.«
Anton warf die Hände in die Luft. »Na, das nenne ich jetzt aber wirklich mal einen Fortschritt.«
Kirow räusperte sich. »Können Sie den Mann beschreiben, Majakowski?«
»Er stand mit dem Rücken zu mir. Es war dunkel.« Majakowski stocherte zwischen seinen Vorderzähnen. »Ich weiß nicht, wer er war, aber ich kann Ihnen sagen, wer den Zaren gerettet hat … nach allem, was sie gesagt haben.«
»Wer hat was gesagt?«, fragte Pekkala.
»Na, sie!« Majakowski zuckte mit den Schultern. »Ich habe doch keine Namen. Die, die da waren und sich unterhalten haben, daher weiß ich doch, was sie gesagt haben.«
»Gut«, sagte Kirow. »Was haben sie gesagt? Wer hat den Zaren gerettet?«
»Ein berühmter Mann. Ich wünschte mir, ich hätte ihn mal kennengelernt.«
»Wer?«
»Inspektor Pekkala«, sagte Majakowski. »Das Smaragdauge höchstpersönlich.«
Die drei Männer, die sich gespannt nach vorn gebeugt hatten, ließen sich gegen die Stuhllehne fallen. Alle drei seufzten vernehmlich auf.
»Was ist los?«, fragte Majakowski.
»Was los ist?«, sagte Kirow. »Das Smaragdauge sitzt direkt vor Ihnen.« Er deutete auf Pekkala.
Majakowski nahm die Pfeife aus dem Mund und zeigte mit dem Stiel auf Pekkala. »Na, Sie kommen aber ganz schön rum.«
Keine achtundvierzig Stunden nachdem er sich vom Zaren verabschiedet hatte, wurde Pekkala auf dem kleinen Bahnhof Vainikkala von einer Abordnung der Bahnpolizei der Rotgardisten festgenommen. Die Lage entlang der Grenze war nach wie vor verworren. Auf manchen Bahnhöfen gab es finnisches Personal, andere standen unter russischer Kontrolle, obwohl sie noch weiter im Westen lagen. Zu ihnen gehörte Vainikkala.
Es war spätnachts, als die Rotgardisten zustiegen. Sie trugen grobe schwarze Wollmäntel mit kirschrot gesäumten Kragen, um den rechten Oberarm hatten sie selbstgefertigte rote Bänder gewickelt, auf die ein Hammer und ein Pflug gezeichnet waren – die bald darauf von Hammer und Sichel abgelöst werden sollten, den Symbolen der Sowjetunion. Passend zur Uniform trugen sie schwarze Kappen, auf denen vorn ein großer roter Stern aufgenäht war.
Laut Pekkalas gefälschten Papieren war er Gynäkologe. Die Papiere waren schon vor einiger Zeit auf Befehl des Zaren von der Ochrana-Druckerei angefertigt worden, von ihrer Existenz aber hatte Pekkala erst erfahren, als der Zar ihm zwei Tage zuvor befohlen hatte, das Land zu verlassen. Die Papiere inklusive Reiseerlaubnis waren perfekt ausgeführt und wiesen alle relevanten Fotos, Stempel und Unterschriften auf. Ihretwegen war er nicht aufgehalten worden.
Pekkala beging den Fehler, den Kopf zu heben und einem der Gardisten direkt in die Augen zu schauen, als sich die drei durch den schmalen Gang im Waggon schoben. Auf ihren Schultern schmolz der Schnee, von ihren Waffen perlte Wasser.
Der erste Gardist stolperte über den Tragegurt einer drei Reihen vor Pekkala unter dem Sitz verstauten Tasche, er fiel der Länge nach hin und fluchte aus Leibeskräften. Die Leute im Abteil zuckten bei seinen hervorgestoßenen Obszönitäten zusammen. Der Gardist riss den Kopf hoch. Er war wütend und fühlte sich blamiert. Und den Ersten, den er erblickte, war Pekkala, der ihm in diesem Moment zufällig in die Augen sah.
»Los«, sagte der Gardist. Er zerrte Pekkala auf die Beine und brachte ihn aus dem Zug.
Der erste Atemzug in der kalten Luft fühlte sich an, als hätte er Pfeffer in der Lunge.
Ein Dutzend Menschen war aus dem Zug geholt worden, vor allem Männer, aber auch einige elegante Frauen, die
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