Roter Zar
nun auf dem Bahnsteig zusammenstanden. Der Name der Ortschaft war unter dem Eis auf dem Schild nur schwer zu entziffern.
Dampfend wartete der Zug darauf, die Fahrt nach Helsinki fortsetzen zu können.
Pekkala überdachte seine Lage. Die Männer, mit denen er es hier zu tun hatte, waren wahrscheinlich ehemalige Soldaten, kaum dafür ausgebildet, gut gefälschte Papiere zu erkennen oder jene Fragen zu stellen, die nötig wären, damit sich jemand, der sich für eine andere Person ausgab, verriet. Eine einzige gezielte Frage zur Gynäkologie, und Pekkalas Tarnung wäre aufgeflogen. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, sich auf seinen neuen Beruf vorzubereiten.
Pekkala trug den Webley in einem Holster am Körper. Er hätte den Mann, der sie bewachte, problemlos erschießen und in die Dunkelheit davonlaufen können, solange die anderen noch den Zug durchsuchten. Aber ein Blick in den dichten Wald mit seinen hohen Schneemassen genügte, und Pekkala wusste, dass er nicht weit kommen würde. Selbst wenn sie ihn nicht erwischten, würde er aller Voraussicht nach erfrieren.
Er konnte nur hoffen, dass die Rotgardisten bald ihre Neugier befriedigt hatten, ihr Stolz wiederhergestellt war und sie alle wieder einsteigen konnten.
Er hatte vor, seine Eltern zu besuchen, um dann weiter nach Stockholm und Kopenhagen und von dort nach Paris zu reisen, wo er sich auf die Suche nach Ilja machen konnte.
Die übrigen Rotgardisten verließen den Zug.
Passagiere hinter den Waggonfenstern wischten Kreise in die beschlagenen Scheiben, um zu sehen, was draußen vor sich ging.
Der Rotgardist, der gestolpert war, schritt die Reihe der aus dem Zug geholten Fahrgäste ab und inspizierte die Papiere. Er war ein wenig zu groß für seine Uniform, die Ärmel hörten ein gutes Stück über den Handgelenken auf. Zwischen den Lippen baumelte eine angezündete Zigarette, und wenn er sprach, hörte er sich an, als hätte er einen eingeklemmten Gesichtsnerv.
»Gut«, sagte er zu einem der Männer. »Du kannst gehen.«
Ohne aufzusehen, rannte der Mann zum Zug.
Zwei Frauen, die vor Pekkala in der Reihe gestanden hatten und nicht fortgelassen wurden, warteten weinend im grellen Schein der Bahnhofslichter. Es hatte zu schneien begonnen, die Flocken trieben in dichten Schwaden über den Bahnsteig.
Der Rotgardist kam zu Pekkala. »Ein Arzt«, sagte er.
»Ja, Herr«, erwiderte Pekkala, den Blick zu Boden gerichtet.
»Wie heißt dieser Knochen?«, fragte der andere.
Und damit wusste Pekkala, dass er in der Falle saß. Nicht weil er den Knochen nicht benennen konnte – nach seiner Ausbildung bei Bandelejew und den langen Jahren in der Leichenkammer seines Vaters, wo die Abbildung eines menschlichen Skeletts an der Wand gehangen hatte, gab es kaum einen Knochen, den er nicht kannte. Nein, er saß in der Falle, weil er nie und nimmer freigelassen würde, wenn er Blickkontakt mit dem Rotgardisten aufnahm. Es war völlig egal, ob der Rotgardist ihm oder einem Hund gegenüberstand; für ihn war das bloß ein Spiel.
»Dieser Knochen hier«, sagte er und schnippte mit den Fingern, um Pekkalas Aufmerksamkeit zu erregen.
Pakkala starrte nach wie vor auf seine Füße. Schneeflocken landeten auf seinen Stiefeln.
Der Zug schnaufte ungeduldig.
Zigarettenrauch strich an seinem Gesicht vorbei.
»Antworte, verdammt noch mal!«, sagte der Rotgardist.
Pekkala blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zu heben.
Der Rotgardist grinste ihn an. Die Zigarette war so weit heruntergebrannt, dass die Glut fast seine Lippen berührte. Er deutete mit der Hand neben seinen Kopf und bewegte langsam die Finger, als wollte er ihn spöttisch grüßen.
Ihre Blicke trafen sich.
Als der Zug losfuhr, blieben nur Pekkala und eine Frau zurück.
Pekkala wurde mit Handschellen an eine Bank gefesselt. Die Rotgardisten zerrten die Frau in den Wartesaal.
Pekkala hörte ihre Schreie.
Eine halbe Stunde später kam die Frau nackt auf den Bahnsteig gerannt.
Der Schneefall hatte aufgehört. Zwischen den vorbeitreibenden Wolkenfetzen war der volle Mond sichtbar. Irgendwann war der gefallene Schnee nicht mehr auf Pekkalas Mantel geschmolzen, sondern hatte sich auf ihn gesetzt und war immer dicker geworden, wie der Pelz eines Eisbären. Er spürte seine Hände nicht mehr. Die Handschellen waren so kalt, dass sie ihm an der Haut festfroren. Seine Zehen waren so hart wie Kugeln, die in die weichen Füße gehämmert waren.
Die Frau erreichte das Ende des Bahnsteigs. Sie schlitterte im Schnee,
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