Roter Zar
konntet.«
»Wir haben die Miliz abgelöst«, erwiderte Anton, »weil sie die Romanows bestohlen hat. Der Zar war von einer Gaunerbande bewacht worden. Es war unprofessionell. Man konnte sich auf sie nicht mehr verlassen.«
»Aber du siehst, wie eure Ankunft auf einen Außenstehenden gewirkt haben muss. Deshalb glaubt Majakowski auch, was er uns erzählt. Es ist wichtig zu wissen, wie Menschen ein Verbrechen wahrgenommen haben, auch wenn man weiß, dass es nicht der Wahrheit entspricht.«
»Entweder ist es wahr, oder es ist nicht wahr.« Anton griff sich den Holzapfel und warf ihn Pekkala zu. »Du klingst schon wie der Typ, der uns diesen Apfel gegeben hat.«
»Mit dem Unterschied, dass wir ein Verbrechen aufklären, aber keines begehen«, sagte Pekkala.
Anton breitete beschwichtigend die Arme aus. »Wie du willst, schließlich leitest du die Ermittlungen. Ich jedenfalls verzieh mich in die Schänke, mal sehen, ob ich dort jemanden um Tabak anhauen kann, sonst kommt man ja kaum an welchen ran.« Er knallte die Tür hinter sich zu.
Kirow und Pekkala machten daraufhin im vorderen Zimmer Feuer, holten die Stühle aus der Küche und ließen sich vor dem offenen Kamin nieder. Sie hatten sich Decken um die Schultern gelegt und streckten die Hände den Flammen entgegen.
Pekkala zog aus der Manteltasche das alte Buch, das er mitgebracht hatte, und vertiefte sich darin.
»Was ist das?«, fragte Kirow nach einer Weile.
»Das
Kalevala
«, murmelte Pekkala und las weiter.
»Das was?«
Pekkala seufzte und legte das Buch auf seinem Knie ab. »Ein Buch mit Geschichten«, erklärte er.
»Was für Geschichten?«, fragte Kirow.
»Legenden«, antwortete Pekkala.
»Ich kenne keine Legenden«, sagte Kirow.
»So was wie Gespenstergeschichten. Man muss sie nicht glauben, aber man kann sich vorstellen, dass vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit in ihnen steckt.«
»Glauben Sie an Gespenster, Pekkala?«
»Warum fragen Sie das, Kirow?«
»Weil ich gerade eines gesehen habe«, sagte er.
Pekkala richtete sich auf. »Was?«
Kirow zuckte mit den Schultern. »Beim Feueranschüren, da hat jemand zum Fenster hereingeschaut.« Er deutete zum Vorhang neben dem Kamin. Von ihrem Platz aus war ein Teil des Fensters zu erkennen, das nicht vom Vorhang verdeckt wurde. Dahinter lag die Straße und die Silhouette der Äste, die sich im Mondlicht wie seltsame Meereswesen hin und her bewegten.
»Wahrscheinlich nur ein Betrunkener auf dem Heimweg von der Schänke, der sehen wollte, warum hier Licht brennt«, sagte Pekkala. »Menschen sind neugierig.«
Kirow kratzte sich die geröteten Wangen. »Es ist nur … na ja … es klingt so …«
»Was, Kirow? Spucken Sie es schon aus … damit ich wieder mein Buch lesen kann.«
»Es ist nur … ich hätte schwören können, dass der Zar zum Fenster hereingeschaut hat. Sein Bart. Diese traurigen Augen. Das alles kenne ich natürlich nur von Bildern. Außerdem war es dunkel.« Er atmete langsam aus. »Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet.«
Pekkala stand auf, verließ das Zimmer und öffnete die Eingangstür. Der nächtliche Wind strich über ihn hinweg. Lange stand er so da, starrte zu den Fensterläden der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hielt nach allem Ausschau, was auf einen möglichen Beobachter hinweisen könnte. Er entdeckte niemanden, hatte aber das Gefühl, beobachtet zu werden.
Als Pekkala ins Zimmer zurückkehrte, hockte Kirow vor dem Kamin und legte Teile eines zerbrochenen Stuhls nach.
Pekkala nahm wieder Platz.
Die Flammen knisterten.
»Sagte doch, dass ich mir alles nur eingebildet habe«, sagte Kirow.
»Möglich«, erwiderte Pekkala.
Pekkala fuhr aus dem Schlaf hoch.
Das Geräusch von splitterndem Glas hatte ihn geweckt.
Von Anton war nichts zu sehen. Seine Decke lag noch zusammengelegt auf dem Kaminsims.
Kirow war bereits auf den Beinen. Die Haare standen ihm nach allen Richtungen weg. »Es ist von dort gekommen.« Er zeigte zur Küche, ging dann in das andere Zimmer und entzündete eine der Laternen.
Pekkala schlug die Decke zurück und strich sich übers Gesicht. Vielleicht nur Anton, dachte er, der sich ausgesperrt hatte und ein Fenster einschlug, damit er hereinkonnte.
»Diese verfluchten Kinder!«, kam es von Kirow.
Pekkala stand auf, griff sich den Webley-Revolver, streckte die steifen Glieder und ging in die Küche. Das Erste, was er sah, war die zerbrochene Fensterscheibe über der Spüle. Glasscherben lagen auf dem
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