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Rotes Meer

Rotes Meer

Titel: Rotes Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Åke Edwardson
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Ende des Halbjahres hatte er angefangen, die Rätsel zu vermissen. Das Leben war zwar ein Mysterium an sich, doch er war all die Teilmysterien gewöhnt, die von der Menschheit geschaffen wurden, häufig mit der Waffe in der Hand, und diese Szene vermisste er. Er war noch nicht bereit, die Unterwelt zu verlassen. Er war wie ein Schwergewichtsboxer, der in den Ring zurückkehrte, um erneut eins auf die Schnauze zu kriegen. Manchmal auch anderen eins auf die Schnauze zu geben. Manchmal den nächsten Zug auszudenken. Manchmal ein Teil des Gegners zu werden, hinabzusteigen in seine Abgründe. Sich in die Abgründe hineinzudenken, ein Teil von ihnen zu werden. Um sie dann zu verlassen, bevor es zu spät war. Deshalb hatte er die Unterwelt im vergangenen Jahr verlassen, weil er befürchtet hatte, es sei zu spät. Aber es ist nie zu spät. Das ist eine gute Redensart, die tröstet. Es ist nie zu spät, solange man nicht tot ist, und dann fängt es vielleicht nur wieder von vorn an. Auch das ist für Millionen auf der Erde ein Trost. Im nächsten Leben wird alles besser. Manche versuchen den Zustand schon in diesem Leben zu erreichen. Geben alles auf und fangen wieder bei null an. Fangen in Göteborgs nördlichen Vororten von vorn an. Dabei handelt es sich nicht um die Mehrheit. Ich habe mit der Minderheit zu tun. Sie sind meine Rätsel. Ich soll sie lösen, sie auflösen, könnte man vielleicht sagen.
    Unten fuhr ein Auto über den Vasaplatsen in nördlicher Richtung. Das war das einzige Lebenszeichen, wenn denn ein Auto ein Zeichen von Leben ist. Er sah, wie sich die Sonne über den Hausdächern von Angered emporstemmte. Es hatte den Anschein, als ginge sie über den Bergen nördlich von Angered auf. Rannebergen. Said und Shahnaz Rezai. Iraner aus der Gegend von Tabriz, Said war vor dem Militärdienst geflohen, er hatte nicht mit achtzehn Jahren sterben wollen. Allen, die im Krieg gegen den Irak an die Front mussten, war klar gewesen, dass sie sterben würden. Winter wusste nicht, ob Said es so ausgedrückt hatte, aber er hatte es von anderen gehört. Er wusste auch nicht, ob es stimmte, dass Said geflohen war oder auf welchem Weg genau er das Land verlassen hatte und warum, aber er war hierhergekommen, hatte als Fensterputzer und eine kurze Zeit lang in einer Werkstatt gearbeitet und sich noch kürzere Zeit mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Häufig hatte er gar nicht gearbeitet, denn für Menschen wie Said gab es fast keine Arbeit. Vor einigen Jahren hatte Winter eine Untersuchung von der Sozialhochschule oder einer anderen Institution gelesen, und in der Untersuchung war festgestellt worden, dass es für junge Männer aus dem Iran am schwersten war, in dem neuen Land Boden unter die Füße zu bekommen. Kein Mieter wollte sie als Nachbarn haben, auch die sogenannten gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften wollten sie nicht. Kein sogenannter seriöser Arbeitgeber wollte einen jungen Schwarzkopf aus dem Iran einstellen und auch über einen alten würde er nicht in Jubel ausbrechen. Die Araber hatten es nicht leicht, aber aus irgendeinem Grund war es für die Perser besonders schwierig. Vielleicht, weil sie damals in der Mehrzahl gewesen waren. Sie waren in Bataillonen vor dem Krieg geflohen. Winter wusste nicht genau, wie viele. Aber er wusste, dass Said Rezai mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, ohne im Gefängnis zu landen, und dass er sich eine Braut aus seinem Heimatland gesucht hatte, die sich zu diesem Zeitpunkt jedoch schon in Schweden aufgehalten hatte. Eigentlich war es üblich, dass sich die Männer ihre Bräute aus dem Iran holten, sofern das möglich war, aber Shahnaz hatte bei ihren Eltern in Schweden gelebt, die einige Jahre später in den Iran zurückgekehrt waren, vielleicht aus zu starkem Heimweh wie vor langer Zeit Anetas Eltern.
    Die Tochter der iranischen Eltern war nun in einer Wohnung ermordet worden, die sich in gemeinnützigem Besitz befand. Dort hatte Said schließlich eine Bleibe gefunden, vielleicht weil er kein einsamer junger Mann mehr war, er war nicht mehr jung gewesen, nur eben Iraner.
    Shahnaz war zu Hause gewesen. Sie hatten keine Kinder. Warum zum Teufel war ihr der Hals durchgeschnitten worden? Was hatte sie getan? Hatte sie zu viel gewusst? Inwiefern war sie in diese Sache verwickelt? Wer hatte sie darin verwickelt? Said? Eine andere Person? Unten fuhr ein Auto vorbei. Bald würde die Stadt erwachen, aber sehr langsam. Der Mittsommertag war der langsamste Tag, zusammen mit dem

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