Rotes Meer
irritierend sein, all diese Blicke zu sehen, die in den Himmel hinaufflogen oder seinen Blick festnagelten, als würde der Betreffende darauf bauen, dass Blickkontakt sofort zu einer Freikarte führte.
Reinholz drehte sich um, sah aber Halders nicht in die Augen. »Zehn Minuten?«
»Fast, vielleicht einige Sekunden weniger.«
»Ach?«
»Sie haben ziemlich lange gebraucht, ehe Sie den Notruf gewählt haben.«
»Wie ich schon sagte … ich habe die Zeit nicht gestoppt.«
»Das ist eine lange Zeit, zehn Minuten oder neun oder acht.«
Reinholz antwortete nicht.
»Wir haben den Parkplatz in einer Minute überquert«, sagte Halders. »Hier drinnen hatten Sie mindestens acht Minuten Zeit.«
»Worauf … wollen Sie hinaus?«
»Ich überlege bloß«, sagte Halders.
Er hatte nachgedacht, zusammen mit Aneta, Winter und Ringmar, nachdem sie alle Telefongespräche überprüft hatten. Reinholz hatte sich Zeit gelassen, bevor er die Notrufnummer wählte. Aber es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die unter einem schweren Schock standen, eine Weile handlungsunfähig waren. Die Zeit veränderte sich, manchmal verging sie sehr schnell, manchmal unendlich langsam. Die Wirklichkeit wurde eine andere, und die eigene Wahrnehmung von Zeit stimmte nicht mit der Wirklichkeit überein. Ich fahr mit ihm raus, hatte Halders gesagt. Mal sehen, was passiert.
»Ich … bin wahrscheinlich einen Moment im Auto sitzen geblieben, bevor ich ausgestiegen bin«, sagte Reinholz.
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Ich war müde. Manchmal bleibt man nach einer Fahrt eine Weile sitzen. Das Aussteigen … kann anstrengend sein.«
»Warum haben Sie überhaupt angehalten?«, fragte Halders. »Sie hätten ja nach Hause fahren können.«
»Ich wollte Zigaretten kaufen, das hab ich doch gesagt.«
»Warum haben Sie gewartet, ehe Sie die Notrufnummer gewählt haben?«
Reinholz sah Halders für einen Moment in die Augen, dann schaute er auf den Fußboden, der mit verschiedenen Schichten wie mit Schiefer bedeckt zu sein schien.
»Ich hab nicht gewartet«, sagte Reinholz. »Soweit ich mich erinnere, habe ich die Nummer gewählt, sobald meine Hände aufhörten zu zittern.«
30
M anchmal kamen andere aus unserem Land. In dem einen Jahr, im nächsten Jahr. Unter ihnen waren welche, die von einem entfernten Verwandten berichten konnten, aber meistens wussten sie gar nichts. Alle hatten fliehen oder mit nichts weggehen müssen, als der Tag gekommen war.
Meine Mutter blieb im Haus, sie fürchtete sich vor dem Draußen.
Vielleicht hatten wir auch Angst.
Alles war fremd. Da draußen gab es einige von unserem Volk, aber das ließ alles mitunter noch merkwürdiger erscheinen, als wäre man in einem fremden Land angekommen und von Landsleuten empfangen worden, die schon so lange hier waren, dass sie sich bereits verändert hatten. Ich bemerkte, wie sich manche verändert hatten.
Wir veränderten uns auch.
Ich kam in die Schule, aber das ging nicht besonders gut.
Ich konnte nicht stillsitzen. Ich schaute immer aus dem Fenster auf den Schulhof zu einem Ball, der ständig in der Luft zu sein schien.
In den Pausen stand ich meistens allein in einer Ecke herum. Ich spielte nicht mit. Ich hatte Freundinnen, ein oder zwei, aber wir besuchten einander nie.
Dann kam mein Bruder mit zwei Männern nach Hause, und da wurde alles anders.
Nicht sofort, aber da war etwas … etwas, das gleichsam in der Luft zu hängen schien, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es war, als wäre ein gefährlicher Wind mit zur Tür hereingeschlüpft, als die beiden eintraten. Ein scharfer, bösartiger Wind, der sich auch durch Lüften nicht verscheuchen ließ.
Ich verstand es nicht. Anfangs verstand ich es nicht.
Die beiden kehrten nicht wieder, etwas Gefährliches schien begraben worden zu sein. Ich wollte, dass es vergraben wurde. Oder verbrannt.
Dann kamen die anderen wieder. Ich erkannte ihre Gesichter nicht.
Meine Mutter saß auf dem Sofa und sah wie blind aus.
Sie war blind.
Sie sah mein Gesicht nicht.
Sie sah nicht, wie mein Bruder aussah, nachdem sie ihn misshandelt hatten.
Du hast keine Wahl, sagten sie.
Aber wir haben alle eine Wahl. Jeder kann eine Wahl treffen. Ich glaube, man muss begreifen, dass man es kann, und wenn man es begriffen hat, kann man etwas tun, auch wenn es schrecklich ist. Aber man hat es begriffen, bevor es zu spät ist. Ist es erst einmal zu spät, kann man nichts mehr machen, nichts Gutes, nichts Böses, nichts
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