Rotglut
sie viel Geld verloren. Falsche Beratung seitens der Finanzmakler, was weiß ich. Aber sie ist zufrieden mit ihrem Laden. Sagt, es reicht ihr zum Leben.«
»Hatte Irene Stolze schon immer einen Hang zur Esoterik?«, fragte Hölzle.
Hannelore Uhlenbruck schüttelte den Kopf und lachte leise. »Nein. Sie hatte begonnen, Jura zu studieren, aber irgendwann abgebrochen.«
»Wann genau?«, wollte Harry wissen.
Die Frau schnalzte leise mit der Zunge. »Lassen Sie mich überlegen. Ich glaube, dass sie das Studium noch vor dem Tod ihrer Eltern abgebrochen hat. Ja, richtig! Ich kann mich erinnern, dass sie einen Riesenstress zu Hause bekam, aber sie war nicht mehr davon abzubringen. In dieser Zeit war sie vollkommen verändert. Mal völlig hysterisch, dann wieder teilnahmslos. Ich weiß nicht, was passiert ist, warum sie ihr Studium hingeschmissen hat. Und ich habe nie danach gefragt. Ich denke, sie war vielleicht verliebt in einen Kommilitonen, ist abgewiesen worden und konnte seine Nähe nicht mehr ertragen. So etwas in der Art, schätze ich. Wir hatten in dieser Zeit aber auch nicht den engsten Kontakt. Ich war ja bereits verheiratet, und Raimund und Irene, na ja, die beiden konnten sich eigentlich nicht riechen. Wissen Sie, ich hatte ein kleines Kind und sie trieb sich bis spät in der Nacht mit ihren Studienfreunden herum, da gab es nicht so viele Berührungspunkte. Das Ganze änderte sich erst wieder nach Raimunds Tod, unsere alte enge Freundschaft war wieder da.«
»Verstehe. Ich habe da allerdings noch eine ganz andere Frage. Wie wir durch unsere Ermittlungen erfahren haben, hat Raimund Stegmann wegen des Todes eines Polizisten vor Gericht gestanden. Warum haben Sie uns das nicht erzählt?«
Hannelore zuckte mit den Schultern und reagierte abweisend: »Warum sollte ich? Was hat die alte Geschichte denn mit heute zu tun?«
»Das fragen wir uns auch, Frau Uhlenbruck, denn es hat den Anschein, dass ein Zeuge bestochen wurde und seine Aussage vor Gericht widerrufen hat.« Harry Schipper beobachtete genau die Reaktionen der Frau. Doch sie zeigte keine Regung und blickte ihm direkt ins Gesicht.
»Hören Sie, ja, es gab diese Schießerei im Karstadt-Kaufhaus, und leider kam dieser junge Mann ums Leben. Aber ich schwöre Ihnen, Raimund hätte nie jemanden absichtlich umbringen können. Der Zeuge hatte sich geirrt und schließlich, Gott sei Dank, seine ursprüngliche Aussage beim Prozess berichtigt.«
Hölzles Handy meldete sich wie immer mit einem Flippers-Song, welcher Harry die Augen verdrehen ließ, Hannelore Uhlenbruck schien eher konsterniert zu sein.
»Hölzle«, meldete er sich. »Wo? Alles klar. Sind unterwegs.« Er klappte das Handy zu.
»Vielen Dank, Frau Uhlenbruck, wir müssen los. Ach, eine Frage noch. Mit wie viel Geld hat Irene Stolze Ihnen denn ausgeholfen?«
»30.000 Mark. Ich hatte bis heute nicht die Möglichkeit, es ihr zurückzuzahlen. Sie wollte es nicht, hatte darauf bestanden, dass sie es mir schenken wollte.«
Hölzle verließ mit Harry das Haus und beantwortete dessen stumme Frage. »Toter in Oberneuland, wohl Selbstmord, aber Muller hat ein komisches Gefühl und meinte, wir sollten uns das mal ansehen.«
7. Dezember 1974, Bremen
Die Durchsagen in der großen Bahnhofshalle des Bremer Hauptbahnhofs sind kaum zu verstehen, der Geräuschpegel in der Halle ist enorm hoch. Wütende Fans des HSV krakeelen lautstark und teilweise besoffen ihren Frust heraus, dass das Spiel gegen den Erzfeind Werder Bremen ausgefallen ist. Einkaufslustige, die mit der Bahn nach Bremen gekommen sind, drängen mit ihren Tüten zu den Bahnsteigen, um ihre Züge nach Oldenburg oder Rotenburg zu erwischen.
Ein junges Mädchen wartet geduldig in der Nähe des Schließfachs mit der Nummer 66 vor einer der fünf nebeneinander stehenden Telefonzellen. Es will seine Mutter anrufen, um ihr mitzuteilen, dass sie noch etwas länger in der Stadt bleibt. Zur gleichen Zeit nähern sich zwei Brüder den Schließfächern. Sie spekulieren darüber, wie das Spiel wohl ausgegangen wäre, wenn man es denn ausgetragen hätte. Eine Hausfrau hat eine freie Telefonzelle gefunden, sie steht mit ihren Einkäufen eingezwängt in der engen Zelle und wartet, dass ihr Mann am anderen Ende der Leitung endlich den Hörer abnimmt. Ein Mann mittleren Alters verlässt die Post. Sie liegt den Telefonzellen gegenüber. Er hat soeben ein Päckchen an seine Mutter aufgegeben. Kaffee, Tee, Strümpfe, Schokolade, eine Mettwurst, Bremer Klaben. Sie wird
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