Rotglut
sich freuen. Sie lebt in Jena, und Weihnachten steht vor der Tür.
Urplötzlich zerreißt eine gewaltige Explosion das geschäftige Treiben der Menschen. Die Detonation des Inhalts des Schließfachs mit der Nummer 66 um 16.15 Uhr ist so heftig, dass die Metalltüren der Fächer herauskatapultiert werden. Sie schlagen in die Telefonzellen ein, Glas splittert und wird ebenfalls umhergeschleudert. Die Druckwelle wirft den Mann um, er kracht mit dem Kopf an die Wand der Post, in der sein Päckchen auf den Versand wartet. Einer der Brüder wird durch einen Splitter am Kopf verletzt, das junge Mädchen liegt reglos am Boden. Blut läuft über ihr Gesicht. Die Hausfrau hat Glück, dass kein Splitter der berstenden Telefonzelle ihr Gesicht trifft. Panik bricht aus, verstärkt sich, als ein Teil der Bahnhofshallendecke einbricht.
Mit ohrenbetäubendem Lärm kommen Raimund Stegmann Polizei-, Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge entgegen. Er nimmt sie kaum wahr. Die Hände in seiner Jackentasche vergraben, geht er seiner Wege, ein eiskalter Wind bläst ihm um die Ohren. Mittlerweile ist es dunkel geworden und die Weihnachtsbeleuchtung in der Innenstadt heißt die Einkaufenden willkommen. Dies wird der letzte Auftrag gewesen sein, den er für Stock erledigt hat, schwört er sich.
Stocks Anweisungen sind wie immer klar und präzise gewesen. Er hat ihm einen Karton gereicht. ›Dieses Mal soll aber nichts schiefgehen so wie vor ein paar Monaten bei der Lösegeldübergabe‹, hat Stock ihm eingeschärft.
Raimund hat später, als er allein war, in den Karton hineingeschaut. Auf den ersten Blick ein ganz normaler Feuerlöscher, doch er hat gewusst, dass dem nicht so war. Das Paket sollte er heute am Nachmittag in einem Schließfach im Bremer Hauptbahnhof deponieren. Er hat sich für das Schließfach mit der Nummer 66 entschieden. Wozu das alles gut sein sollte, ist ihm egal.
Stegmann ist selbst über die Sprengkraft der Bombe erstaunt gewesen. Und er fragt sich, ob Stock bewusst gewesen ist, was dieses verdammte Ding anrichten konnte.
Allmählich kommen ihm immer größere Zweifel, ob er dieses Leben so weiterführen will. Ob es nicht besser ist, aus seinem alten Leben auszusteigen und Stocks Drecksarbeiten einem anderen zu überlassen. Er nimmt sich vor, nach Weihnachten zu verschwinden.
13. August 2010, Bremen
Hölzle betrachtete die Leiche und sah sich im Zimmer um, konnte aber auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Tote saß in einem Stuhl hinter dem Schreibtisch, der Kopf mit dem Einschussloch an der rechten Schläfe war nach links hinten gekippt. Die Arme hingen schlaff zur Seite, die Waffe lag am Boden. Links auf dem Schreibtisch standen ein leeres Glas und eine Vase mit leicht verwelkten gelben Rosen.
einen Abschiedsbrief gab es laut den Kollegen von der Spurensicherung nicht, die Fotos machten und alles, was eventuell als Spur verwertbar sein könnte, in kleine Tütchen oder Röhrchen packten. Auch die Hände des Toten wurden sorgsam mit Plastiktüten umschlungen, um sie später auf Schmauchspuren zu untersuchen.
Unterlagen, bei denen es sich offensichtlich um die Geschäftsbilanzen des Toten handelte, und ein kleiner Ordner mit Kontoauszügen der Apotheker- und Ärztebank lagen auf dem Schreibtisch.
Fünf Minuten nach Hölzles Ankunft traf auch die Gerichtsmedizinerin ein. Sie wechselte einige Worte mit dem Notarzt, der bereits da gewesen war, als Hölzle erschien. Ein kurzer Blick auf den Toten genügte Sabine Adler-Petersen, und sie wies zwei der Männer an, den Leichnam einzupacken und in das Rechtsmedizinische Institut zu bringen.
»Irgendwas Auffälliges, Hölzle?«, fragte sie. Dieser schüttelte den Kopf.
»Bis jetzt nicht. Sieht aus wie ein ganz normaler Selbstmord.« Er setzte kleine Lufthäkchen mit den Fingern bei dem Wort ›normal‹. »Der Schuss war angesetzt. Ist ja nicht zu übersehen. Die Waffe hat fast schon Seltenheitswert. Eine Luger P08, die wurde nur bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hergestellt. Hat der Tote vermutlich geerbt, vielleicht aber auch bei einem Händler, der auf Militaria spezialisiert ist, erstanden. Wir werden überprüfen, ob sie registriert ist.«
»Gut. Ich mache die üblichen Routinechecks. Er hat wohl zuvor getrunken, meinte der Kollege vom ärztlichen Notdienst. Wissen Sie schon, wer er ist?«
»Ja«, sagte Peter, der soeben hinzugetreten war, Harry im Schlepptau. »Es handelt sich um Knut Harmsen, allein lebend, unverheiratet, keine Kinder.
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