Roth, Philip
drückte in dem kleinen Vestibül, in dem sich auch die Briefkästen befanden, auf den Klingelknopf und hörte die Glocke im ersten Stock. Jemand kam langsam die Stufen hinunter und öffnete die mit einem Milchglasfenster versehene Tür am Fuß der Treppe, um nachzusehen, wer da geläutet hatte. Der Mann war groß und korpulent, und das kurzärmlige Hemd spannte sich über seinem Bauch. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah Mr. Cantor stumm an, als hätte die Trauer ihn sprachlos gemacht.
»Ich bin Bucky Cantor. Ich bin Sportlehrer an der Chancellor Avenue School und habe die Ferienaufsicht über den Sportplatz. Alan war in einer meiner Klassen, und er war einer der Jungen, die in den Ferien auf dem Sportplatz Baseball gespielt haben. Ich habe gehört, was geschehen ist, und bin gekommen, um Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
Es dauerte lange, bis der Mann antwortete. »Ja. Alan hat oft von Ihnen gesprochen«, sagte er schließlich.
»Als Sportler war Alan ein Naturtalent. Und er war ein sehr besonnener Junge. Es ist schrecklich und schockierend. Unbegreiflich. Ich möchte Ihnen sagen, wie leid es mir für Sie tut.«
Es war sehr heiß in dem kleinen Vestibül, und beide Männer schwitzten stark.
»Kommen Sie rauf«, sagte Mr. Michaels. »Wir haben etwas Kühles zu trinken.«
»Ich möchte Sie nicht stören«, sagte Mr. Cantor. »Ihnen nur mein Beileid aussprechen und Ihnen sagen, was für ein guter Junge Alan war. Er war in jeder Hinsicht wie ein Erwachsener.«
»Es gibt Eistee. Meine Schwägerin hat welchen gemacht. Für meine Frau mussten wir den Arzt rufen. Seit es passiert ist, liegt sie im Bett. Er hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Kommen Sie und trinken Sie ein bisschen Eistee.«
»Ich möchte Sie nicht stören.«
»Kommen Sie. Alan hat uns viel von Mr. Cantor und seinen Muskeln erzählt. Er war so gern auf dem Sportplatz.« Und dann fügte er, mit brechender Stimme, hinzu: »Er hat das Leben so geliebt.«
Mr. Cantor folgte dem großen, müden, gramgebeugten Mann die Treppe hinauf und in die Wohnung. Alle Rollos waren heruntergelassen, und es brannte kein Licht. Neben dem Sofa war eine Radiotruhe, gegenüber davon standen zwei große weiche Sessel. Mr. Cantor setzte sich im Dämmerlicht auf das Sofa, während Mr. Michaels in der Küche verschwand und mit einem Glas Eistee für seinen Gast zurückkehrte. Er bedeutete Mr. Cantor, sich näher zu ihm zu setzen, auf einen der Sessel, und ließ sich dann mit einem lauten, schmerzhaften Seufzer auf dem anderen nieder, vor dem ein gepolsterter Schemel stand. Sobald er sich gesetzt und die Füße auf den Schemel gelegt hatte, sah er aus, als läge er, wie seine Frau, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln im Bett und könnte sich nicht rühren. Der Schock hatte sein Gesicht ausdruckslos gemacht.
Im Dämmerlicht sah die fleckige Haut unter seinen Augen schwarz aus, als wäre sie mit zwei Abzeichen der Trauer bedruckt. Die alten jüdischen Riten verlangen, dass man seine Kleider zerreißt, wenn man vom Tod eines geliebten Menschen erfährt - Mr. Michaels hatte statt dessen zwei dunkle Flicken an seinem bleichen Gesicht befestigt.
»Wir haben zwei Söhne in der Armee«, sagte er langsam und wie in großer Erschöpfung, so leise, dass man ihn nebenan nicht hören konnte. »Seit sie an der Front sind, vergeht kein Tag, an dem ich nicht mit dem Schlimmsten rechne. Sie haben die schrecklichsten Schlachten überlebt, und dann wacht ihr kleiner Bruder eines Morgens mit Fieber und einem steifen Nacken auf, und drei Tage später ist er tot. Wie sollen wir das seinen Brüdern sagen? Wie sollen wir ihnen das schreiben, wenn sie an der Front sind? Ein zwölfjähriger Junge. Der beste Junge, den man sich nur vorstellen kann, und jetzt ist er tot. In der ersten Nacht ging es ihm so schlecht, dass ich am Morgen dachte, das Schlimmste wäre vielleicht vorüber, die Krise wäre überstanden. Aber das Schlimmste hatte gerade erst begonnen. Was für einen Tag der Junge gehabt hat! Er hat geglüht. Wir haben Fieber gemessen und konnten es nicht glauben: einundvierzig Grad! Als der Doktor kam, hat er gleich den Krankenwagen gerufen, und im Krankenhaus haben sie ihn uns weggenommen - und das war's. Wir haben ihn nicht mehr lebend gesehen. Er ist ganz allein gestorben. Keine Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Der Schrank mit seinen Kleidern, den Schulbüchern und den Sportsachen - das ist alles, was uns von ihm geblieben ist. Und seine Fische da drüben.«
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