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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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ruhig bleibt und alles tut, was in seiner Macht steht, um die Kinder zu schützen, werden wir es gemeinsam überstehen.«
    »Oh, danke, junger Mann. Sie sind ein wunderbarer junger Mann.«
    »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte er und blickte in ihre besorgten Augen, die ihn flehend ansahen, als wäre er weit mächtiger als ein dreiundzwanzigjähriger Lehrer, der die Ferienaufsicht über den Sportplatz hatte.
    Fabyan Place war die letzte Straße in Newark vor den Eisenbahngleisen, den Sägewerken und der Straße nach Irvington. Wie die anderen Straßen, die von der Chancellor Avenue abzweigten, war sie gesäumt von Zweieinhalb-Familien-Häusern mit Eingangstreppen aus rotem Backstein und winzigen, von Hecken eingefassten Gärten. Zwischen den Häusern waren kleine Garagen mit schmalen, betonierten Zufahrten. Vor jedem Haus standen am Straßenrand junge Schattenbäume, die in den vergangenen Jahren von der Stadt gepflanzt worden waren und jetzt, nach wochenlanger, durch keinen Regen gemilderter Hitze, etwas verdorrt wirkten. Die Straße war ruhig und sauber; nichts deutete auf Krankheit oder Infektion hin. In den meisten Häusern waren die Rollos heruntergelassen oder die Vorhänge zugezogen, um die schreckliche Hitze auszusperren. Es war weit und breit niemand zu sehen, und Mr. Cantor fragte sich, ob das an der Hitze lag oder ob die Nachbarn ihre Kinder aus Respekt vor den Michaels - oder vielleicht aus Angst vor ihnen - im Haus behielten.
    Dann erschien dort, wo die Straße in die Lyons Avenue mündete, eine Gestalt und bewegte sich im gleißenden Licht der Sonne, die auf Fabyan Place herniederbrannte und den Asphalt aufweichte. Der unverkennbare Gang verriet, um wen es sich handelte: Es war Horace. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind in Weequahic kannte Horace, hauptsächlich weil es so beunruhigend war, ihn auf der Straße auf sich zukommen zu sehen. Kleine Kinder rannten, wenn sie ihn sahen, auf die andere Straßenseite, Erwachsene schlugen die Augen nieder. Horace war der »Idiot« des Viertels, ein magerer, geistig zurückgebliebener Mann von Ende Dreißig, Anfang Vierzig - niemand wusste genau, wie alt er war -, dessen geistige Entwicklung im Alter von sechs, sieben Jahren stehengeblieben war und den ein Psychologe höchstwahrscheinlich als Schwachsinnigen diagnostiziert und nicht, wie die Jugendlichen des Viertels, mit dem laienhaften Stempel »Trottel« versehen hätte. Er zog beide Füße nach, und sein Kopf, den er vorreckte wie eine Schildkröte, hüpfte bei jedem Schritt auf und ab, so dass er mehr zu stolpern als zu gehen schien. Wenn er sprach - was nur selten geschah -, hatte er stets Speichel in den Mundwinkeln, und wenn er schwieg, sabberte er manchmal. Er hatte ein schmales, unregelmäßiges Gesicht, das aussah, als wäre es im Geburtskanal verbogen und zerknautscht worden. Nur die Nase war groß und wirkte in diesem schmalen Gesicht auf eine merkwürdige und groteske Weise knollig, was manche der Kinder dazu inspirierte, ihm »Hallo, Rüsseltier!« nachzurufen, wenn er an einer Treppe oder Einfahrt vorbeischlurfte, wo sie sich versammelt hatten. Seine Kleider verströmten zu jeder Jahreszeit einen stechenden säuerlichen Geruch, und sein Gesicht war mit kleinen Blutflecken übersät, winzigen Schnitten, die belegten, dass Horace den Geist eines Kindes, aber den Bartwuchs eines Mannes besaß und sich, obgleich das gefährlich war, selbst rasierte oder von seinen Eltern rasiert wurde, bevor er hinausging. Vermutlich hatte er soeben die kleine Wohnung hinter der Schneiderwerkstatt um die Ecke verlassen, wo er mit seinen Eltern lebte, die miteinander Jiddisch und mit den Kunden in gebrochenem Englisch sprachen. Angeblich hatten sie noch andere, vollkommen normale Kinder, die erwachsen waren und woanders lebten - zur allgemeinen Verwunderung war der eine von Horace' Brüdern angeblich Arzt, der andere ein erfolgreicher Geschäftsmann. Horace war das jüngste Kind der Familie. Er ging jeden Tag durch das Viertel, im heißesten Sommer wie im tiefsten Winter; dann trug er einen viel zu großen, mit einer Kapuze versehenen Mantel, schwarze, nicht verschlossene Galoschen und Handschuhe, die mit Sicherheitsnadeln an den Enden der Ärmel befestigt waren und dort unbenutzt baumelten, ganz gleich, wie kalt es war. Wenn er in dieser Aufmachung seines Weges schlurfte, wirkte er noch seltsamer als sonst.
    Mr. Cantor fand das Haus der Michaels am Ende der Straße, stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf,

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