Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
Vom Netzwerk:
bemerkte Mr. Cantor das große Aquarium am anderen Ende des Raums, wo dunkle Vorhänge vor einem Fenster zugezogen waren, das vermutlich auf die Garageneinfahrt ging. Das Aquarium war von oben beleuchtet, und darin sah er winzige Fische in verschiedenen Formen und Farben, mehr als ein Dutzend, die in eine kleine, von Unterwasserpflanzen umgebene Höhle hinein- und wieder herausschwammen. Einige standen in einer Ecke neben einem silbernen Zylinder, aus dem Luftblasen aufstiegen, reglos auf der Stelle, andere wühlten im Sand auf dem Boden, und wieder andere saugten an der Oberfläche. Alans Werk, dachte Mr. Cantor, ein gut ausgestatteter, sorgfältig gepflegter und versorgter Lebensraum.
    »Heute morgen«, sagte Mr. Michaels und zeigte über die Schulter auf das Aquarium, »ist mir eingefallen, dass ich jetzt die Fische füttern muss. Ich bin im Bett hochgefahren.«
    »Er war einer der besten«, sagte Mr. Cantor leise und beugte sich vor, damit Mr. Michaels ihn verstehen konnte.
    »Hat immer seine Hausaufgaben gemacht«, sagte Mr. Michaels. »Immer seiner Mutter geholfen. War nie egoistisch. Im September wollte er anfangen, sich auf seine Bar-Mizwah vorzubereiten. Höflich. Ordentlich. Hat seinen Brüdern jede Woche Briefe geschrieben und uns am Abendbrottisch vorgelesen. Immer hat er seine Mutter aufgemuntert, wenn sie wegen den beiden anderen niedergeschlagen war. Hat sie zum Lachen gebracht. Sogar als er noch ganz klein war, hatte man mit Alan immer was zu lachen. Die Freunde unserer Jungs kamen immer zu uns, wenn sie Spaß haben wollten. Wir hatten das Haus voller Jungen. Warum hat Alan Kinderlähmung gekriegt? Warum musste er krank werden und so sterben?«
    Mr. Cantor umklammerte das Glas mit Eistee, ohne davon zu trinken, ohne überhaupt zu merken, dass er es hielt.
    »Seine Freunde haben jetzt Angst«, sagte Mr. Michaels.
    »Sie haben Angst, sie könnten sich bei ihm angesteckt haben und ebenfalls Polio kriegen. Ihre Eltern sind außer sich. Niemand weiß, was zu tun ist. Was soll man tun? Was hätten wir tun sollen? Was? Ich zermartere mir den Kopf. Könnte es einen saubereren Haushalt geben als diesen? Gibt es eine Frau, die mehr auf Sauberkeit achtet als meine Frau? Gibt es eine Mutter, der das Wohlergehen ihres Sohnes mehr am Herzen liegt? Gibt es einen Jungen, der sein Zimmer und seine Kleidung besser in Ordnung hält als Alan es getan hat? Alles, was er gemacht hat, hat er von Anfang an richtig gemacht. Und dabei war er immer fröhlich. Immer zu Scherzen aufgelegt. Warum musste er sterben? Ist das gerecht?«
    »Nein, das ist nicht gerecht«, sagte Mr. Cantor.
    »Man macht immer alles richtig, immer und immer und immer, von Anfang an, man versucht, ein vernünftiger Mensch zu sein, ein hilfsbereiter Mensch - und dann das! Wo ist da der Sinn in diesem Leben?«
    »Es scheint keinen zu geben«, sagte Mr. Cantor.
    »Wo ist da die Gerechtigkeit?«, fragte der arme Mann.
    »Ich weiß es nicht, Mr. Michaels.«
    »Warum treffen solche Tragödien immer Menschen, die es am wenigsten verdient haben?«
    »Auch das weiß ich nicht«, sagte Mr. Cantor.
    »Warum er und nicht ich?«
    Mr. Cantor wusste keine Antwort auf diese Fragen. Er zuckte nur die Schultern.
    »Ein Junge - sie trifft einen Jungen. Es ist so grausam!« Mr. Michaels schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. »So sinnlos! Eine schreckliche Krankheit fällt vom Himmel, und ein Mensch stirbt über Nacht. Ein Kind!«
    Mr. Cantor wünschte, er wüsste ein einziges Wort zu sagen, das das furchtbare Leid dieses Vaters lindern konnte, und sei es nur für einen Augenblick, doch er konnte nur anteilnehmend nicken.
    »Neulich abend saßen wir draußen. Alan war auch dabei. Er war gerade von seinem Siegesgarten nach Hause gekommen. Um den hat er sich jeden Abend gewissenhaft gekümmert. Letztes Jahr haben wir den ganzen Sommer das Gemüse gegessen, das Alan dort gezogen hat. Wir saßen also draußen, und eine Brise kam auf. Erinnern Sie sich? Es war so gegen acht, da wehte eine leise Brise - erinnern Sie sich, wie erfrischend das war?«
    »Ja«, sagte Mr. Cantor, doch er hatte gar nicht richtig zugehört. Er hatte die tropischen Fische im Aquarium betrachtet und gedacht, dass sie nun, da Alan sich nicht mehr um sie kümmern konnte, verhungern würden. Vielleicht würden sie auch verschenkt werden, oder irgendjemand würde sie irgendwann unter Tränen die Toilette hinunterspülen.
    »Nach der Gluthitze des Tages war es wie ein Segen. Man wartet die ganze Zeit,

Weitere Kostenlose Bücher