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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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Drugstores traf er einen der Jungen, mit denen er Baseball gespielt hatte, mit denen er aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Alle, die nicht untauglich waren wie er - junge Männer, die Herzfehler oder Plattfüße oder so schlechte Augen hatten wie er und in Rüstungsfabriken arbeiteten -, waren längst zur Armee eingezogen worden.
    An der Belmont Street überquerte Mr. Cantor die Hawthorne Avenue, wo in einigen Bonbonläden Licht brannte und er die Stimmen von Jungen hörte, die noch draußen waren und sich etwas zuriefen. Dann bog er in die Bergen Street ein und kam in den wohlhabenderen Teil von Weequahic, wo der Hügel zum Weequahic Park abfiel. Schließlich war er in der Goldsmith Avenue, und erst als er beinahe am Haus der Steinbergs angekommen war, wurde ihm bewusst, dass er an diesem warmen Abend nicht bloß irgendeinen Spaziergang machte, sondern sein Ziel mit Bedacht gewählt hatte. Vielleicht hatte er einfach das große Backsteinhaus zwischen den anderen großen Backsteinhäusern sehen und an Marcia denken und dann wieder zur Barclay Street zurückkehren wollen, doch als er einmal um den Block gegangen war, stand er wieder vor dem Haus, ging entschlossen die wenigen Schritte über den mit Steinplatten belegten Weg zur Haustür und läutete. Auf der mit Fliegengitter versehenen Vorderveranda hatten Marcia und er, vom Kino zurück, auf der Schaukel gesessen und geschmust, bis ihre Mutter sich von oben freundlich erkundigt hatte, ob Bucky nicht langsam nach Hause müsse.
    Dr. Steinberg öffnete die Tür. Mit einemmal wusste Mr. Cantor, warum er den weiten Weg von der Barclay Street auf sich genommen hatte und durch die stinkende Luft hierher gegangen war.
    »Bucky, mein Junge!«, begrüßte er ihn und breitete lächelnd die Arme aus. »Was für eine nette Überraschung! Komm rein, komm rein.«
    »Ich wollte nur ein Eis essen, und dann hab ich einen Spaziergang hierher gemacht«, erklärte Mr. Cantor.
    »Dir fehlt dein Mädchen«, sagte Dr. Steinberg lachend. »Mir auch. Mir fehlen meine drei Mädchen.«
    Sie gingen zur ebenfalls mit Fliegengitter eingezäunten hinteren Veranda, die auf den Garten der Steinbergs ging. Seine Frau, sagte Dr. Steinberg, sei für eine Woche in ihr Sommerhaus am Meer gefahren, wo er sich am Wochenende zu ihr gesellen werde. Ob Bucky vielleicht ein Glas Limonade wolle? Es sei welche im Eisschrank, er werde ihm ein Glas bringen.
    Das Haus der Steinbergs war so, wie Mr. Cantor es sich erträumt hatte, als er mit seinen Großeltern in der kleinen Dreizimmerwohnung im dritten Stock in der Barclay Street gelebt hatte: ein großes Einfamilienhaus mit geräumigen Korridoren und einer zentralen Treppe, mit vielen Schlafzimmern und mehreren Toiletten, mit zwei Veranden und schönem Teppichboden in allen Räumen, und anstelle der Verdunkelungsrollos von Woolworth waren die Fenster mit Jalousien verschlossen. Und hinter dem Haus war ein Garten. Er hatte noch nie zuvor einen blühenden Garten gesehen, außer den berühmten Rosengarten im Weequahic Park, in dem er als Kind mit seiner Großmutter gewesen war. Es war ein öffentlicher Park, der vom Gartenamt gepflegt wurde; soweit er wusste, waren alle Parks öffentlich. Er staunte, dass es in Newark Häuser mit einem privaten Blumengarten gab. Der Beton im Hof des Hauses, in dem er wohnte, war von Rissen durchzogen, und hier und da gab es regelrechte Löcher, wo die Kinder aus der Nachbarschaft im Lauf der Jahrzehnte kleine Brocken herausgelöst hatten, um sie bösartig nach Katzen, übermütig nach vorbeifahrenden Wagen und wütend auf einander zu werfen. Die Mädchen spielten dort Himmel und Hölle, bis die Jungen sie vertrieben, um Karten zu spielen; die verbeulten Mülltonnen der Mieter standen unordentlich aufgereiht da, und darüber war ein durchhängendes Gespinst von Wäscheleinen, die zwischen Rollen an den hinteren Fenstern der Wohnungen und einem Telefonmast am anderen Ende des vernachlässigten Hofs gespannt waren. Als Kind hatte er dabeigestanden, wenn seine Großmutter Wäsche aufhängte, und ihr die Wäscheklammern gereicht. Manchmal war er schreiend aus einem Albtraum erwacht, in dem sie sich so weit aus dem Fenster gebeugt hatte, um ein Bettuch aufzuhängen, dass sie hinausgefallen war. Bevor seine Großeltern sich entschlossen hatten, ihm zu sagen, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, hatte er sich vorgestellt, sie sei bei einem solchen Sturz ums Leben gekommen. Bis er alt genug war, die Wahrheit zu verstehen

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