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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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aber in deinem Fall ist sie ungerechtfertigt.« Er wies bedeutungsvoll mit dem Pfeifenstiel auf den jungen Mann und sagte warnend: »Wir können sehr strenge Richter über uns selbst sein, auch wenn es in keinster Weise angebracht ist. Ein übertriebenes Pflichtbewusstsein kann einen Menschen stark schwächen.«
    »Glauben Sie, es wird noch schlimmer werden, Dr. Steinberg?«
    »Epidemien besitzen die Eigenart, mit einemmal an Schwung zu verlieren. Diese hier ist in vollem Gang. Wir müssen dem, was passiert, begegnen und abwarten, ob die Welle abebbt oder nicht. Normalerweise sind die Mehrheit der Fälle Kinder unter fünf Jahren. So war es auch 1916. Das Muster des gegenwärtigen Ausbruchs ist, jedenfalls hier in Newark, etwas anders. Aber das soll nicht heißen, dass diese Krankheit sich immer weiter ausbreiten wird. Soweit ich es beurteilen kann, gibt es noch immer keinen Grund zur Unruhe.«
    So erleichtert wie jetzt, da Dr. Steinberg ihm Rat erteilte, hatte Mr. Cantor sich seit Wochen nicht gefühlt. Nirgendwo in Newark, nicht einmal in der Wohnung seiner Großmutter, nicht einmal in der Turnhalle der Chancellor Avenue School, wo er seinen Sportunterricht abhielt, fühlte er sich so von Zufriedenheit erfüllt wie auf der mit Fliegengitter eingefassten hinteren Veranda der Steinbergs, wenn Dr. Steinberg in seinem gepolsterten Korbsessel saß und an seiner gut eingerauchten Pfeife zog.
    »Warum ist die Epidemie in Weequahic am schlimmsten?«, fragte Mr. Cantor. »Wie kann das sein?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte Dr. Steinberg. »Das weiß niemand. Polio ist noch immer eine geheimnisvolle Krankheit. Diesmal ist sie langsam gekommen. Anfangs war sie hauptsächlich in Ironbound, dann ist sie wahllos in der Stadt umhergewandert, und plötzlich hat sie sich in Weequahic niedergelassen und zugelegt.«
    Mr. Cantor erzählte ihm von dem Vorfall mit den Italienern von der East Side Highschool, die von Ironbound zum Sportplatz gefahren waren und auf den Bürgersteig davor gespuckt hatten.
    »Du hast das Richtige getan«, sagte Dr. Steinberg. »Du hast es mit Ammoniak und heißem Wasser weggewaschen. Das war sehr umsichtig.«
    »Aber habe ich die Polioerreger, die es da vielleicht gab, abgetötet?«
    »Wir wissen nicht, was diese Erreger abtötet«, sagte Dr. Steinberg. »Wir wissen nicht, wer oder was die Polio überträgt, und auch wie sie überhaupt in den Körper eindringt, ist noch immer recht umstritten. Du hast diese Schweinerei beseitigt und die Jungen beruhigt, indem du die Sache in die Hand genommen hast - das ist wichtig. Du hast kompetent und gelassen reagiert, und das ist es, was diese Jungen sehen müssen. Bucky, du bist erschüttert durch das, was geschehen ist. Das ist in Ordnung - auch starke Männer lassen sich erschüttern. Du sollst wissen, dass auch viele von uns älteren, erfahreneren Männern davon erschüttert sind. Als Arzt dazustehen und nicht imstande zu sein, die Ausbreitung dieser schrecklichen Krankheit zu verhindern, ist sehr belastend. Eine Krankheit, die zur Lähmung führt, die hauptsächlich Kinder befällt und manche sogar tötet - das ist für alle schwierig. Du hast ein Gewissen, und ein Gewissen ist etwas Wunderbares - allerdings nur, solange es nicht anfängt, dich für etwas verantwortlich zu machen, das außerhalb deines Verantwortungsbereiches liegt.«
    Er wollte fragen: Hat Gott kein Gewissen? Wo ist Seine Verantwortung? Oder kennt Er keine Grenzen? Statt dessen sagte er: »Finden Sie, dass die Sportplätze geschlossen werden sollten?«
    »Du hast die Aufsicht«, sagte Dr. Steinberg. »Findest du, sie sollten geschlossen werden?«
    »Ich weiß nicht, was richtig ist«, sagte Mr. Cantor.
    »Was würden die Jungen tun, wenn sie nicht mehr auf den Sportplatz gehen könnten? Zu Hause bleiben? Nein, sie würden auf der Straße Ball spielen, auf irgendwelchen unbebauten Grundstücken, im Park. Man kann sie nicht davon abhalten, sich zu treffen, wenn man die Sportplätze zusperrt. Sie werden nicht zu Hause bleiben - sie werden vor den Bonbonläden herumhängen, an Flipperautomaten stehen, sich herumschubsen und zum Spaß miteinander raufen. Sie werden aus den Sodaflaschen der anderen trinken, ganz gleich, wie oft man ihnen gesagt hat, sie sollen das nicht tun. Manche von ihnen werden so zappelig und gelangweilt sein, dass sie irgendwelchen Unsinn machen und in Schwierigkeiten geraten. Es sind keine Engel - es sind Jungen. Bucky, nichts von dem, was du tust, macht die Dinge schlimmer. Im

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