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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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ohnehin schon so mutig, mein Schatz. Meine Knie werden ganz schwach, wenn ich daran denke, wie mutig du bist. Wenn du nach Indian Hill kommst, übernimmst du in Wirklichkeit nur eine andere Aufgabe und wirst sie genauso gewissenhaft erledigen. Und du erfüllst noch eine andere Pflicht gegenüber dir selbst: glücklich zu sein. Bucky, im Angesicht der Gefahr ist das nur klug - es ist gesunder Menschenverstand!«
    »Nein, ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich möchte bei dir sein, ich sehne mich jeden Tag nach dir, aber ich kann jetzt nicht gehen.«
    »Aber du musst auch an dein eigenes Wohlergehen denken. Überschlaf es noch einmal, Schatz, bitte. Bitte.«
    Seine Großmutter saß mit den Einnemans und den Fishers vor dem Haus. Die Fishers - er war Elektriker, sie Hausfrau - waren Ende Vierzig und hatten einen achtzehnjährigen Sohn, der beim Marinecorps war und in Kalifornien darauf wartete, über den Pazifik verschifft zu werden, und eine unverheiratete Tochter, die in der Innenstadt als Verkäuferin für das Kaufhaus arbeitete, bei dem sein Vater das Geld unterschlagen hatte - eine unausweichliche Tatsache, die ihm jedesmal durch den Kopf schoss, wenn sie einander morgens auf dem Weg zur Arbeit begegneten. Die Einnemans waren ein junges Paar mit einem kleinen Kind und lebten direkt unter Mr. Cantor und seiner Großmutter. Das Baby war ebenfalls draußen und schlief in seinem Wagen; seit seiner Geburt hatte Mr. Cantors Großmutter den Einnemans geholfen, es zu versorgen.
    Sie sprachen noch immer über Polio und erinnerten sich an andere schlimme Epidemien. Seine Großmutter erzählte, dass Leute, die Keuchhusten hatten, Armbinden hatten tragen müssen, und dass Diphtherie vor der Entdeckung des Antitoxins die gefürchtetste Krankheit gewesen war. Als Kind hatte sie eine der ersten Pockenimpfungen bekommen. Die Impfstelle hatte sich schlimm entzündet, und seither war auf ihrem rechten Oberarm eine große, unregelmäßig kreisförmige Narbe. Sie schob den kurzen Ärmel ihres Hauskleids hoch, damit alle es sehen konnten.
    Nachdem er eine Weile zugehört hatte, stand Mr. Cantor auf und sagte, er wolle einen Spaziergang machen und ein Eis essen. Er ging zum Drugstore an der Avon Avenue, kaufte sich an der Theke eine Waffel mit zwei Kugeln Eis und setzte sich unter einen der großen Deckenventilatoren, um es zu essen. Und um nachzudenken. Wenn eine Anforderung an ihn gestellt wurde, musste er sie erfüllen. Die Anforderung bestand jetzt darin, sich um die gefährdeten Jungen auf dem Sportplatz zu kümmern. Und er musste sie erfüllen, nicht nur wegen der Jungen oder weil er einen Vertrag hatte, sondern aus Achtung vor dem Andenken an jenen beharrlichen Lebensmittelhändler mit seiner schroffen Heftigkeit, der trotz all seiner Beschränkungen alle Anforderungen erfüllt hatte: seinen Großvater. Marcia lag ganz falsch: Wenn er von hier fortging und zu ihr in die Poconos fuhr, würde er auf eine Weise vor seiner Pflicht davonlaufen, wie sie schändlicher kaum vorstellbar war.
    In der Ferne jaulte die Sirene eines Krankenwagens. Man hörte sie hin und wieder, inzwischen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es waren nicht die Luftschutzsirenen - die ertönten nur einmal pro Woche, am Samstag um zwölf Uhr, und sie verbreiteten nicht Angst, sondern das beruhigende Gefühl, dass die Stadt für alles gerüstet war. Nein, es waren die Wagen, die Polio-Opfer abholten und in die Krankenhäuser brachten, und die Sirenen schrien: »Aus dem Weg - ein Leben ist in Gefahr!« In einigen Kliniken gab es keine eisernen Lungen mehr, und Patienten, die eine benötigten, mussten nach Belleville, Kearny oder Elizabeth gebracht werden, bis neue Apparate nach Newark geliefert wurden. Er hoffte, der Krankenwagen würde nicht nach Weequahic fahren, um einen weiteren seiner Jungen zu holen.
    Wenn die Epidemie noch schlimmer würde, hatte er gerüchteweise gehört, würde die Stadt die über dreißig Sportplätze schließen müssen, damit die Kinder keinen zu engen Kontakt miteinander hatten. Normalerweise sei für eine solche Maßnahme das Gesundheitsamt zuständig, doch der Bürgermeister wolle die sommerlichen Aktivitäten der Kinder nicht unnötig beschränken und habe sich vorbehalten, diese Entscheidung selbst zu treffen. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um die Eltern zu beruhigen. Er war in jedem Schulsprengel der Stadt erschienen, um die besorgten Bürger über Maßnahmen zu informieren, die die Stadt ergriffen hatte, um Schmutz und

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