Rotkäppchen und der böse Wolf
bestimmten Platz ein kleines Boot erwartet, und das wollen wir natürlich auch kriegen. Darum lassen wir Beresford noch dort – wir wollen erst in letzter Minute in Erscheinung treten.« Er sah sie besorgt an. »Hoffentlich werden Sie das verstehen?«
»Aber ja!« Tuppence sah neugierig auf eine merkwürdige, durch die Bäume halb verdeckte Stoffmasse.
»Es kann ihm wirklich nichts geschehen«, fuhr der junge Mann ernst fort.
»Natürlich, natürlich«, sagte Tuppence ungeduldig. »Sprechen Sie nur nicht mit mir wie mit einem zweijährigen Kind! Die Sache ist nicht ungefährlich, das wissen wir beide. Was ist das für ein Zeug da?«
»Ja, also…«, der junge Mann zögerte. »Darum handelt es sich gerade. Ich habe Auftrag, Ihnen einen bestimmten Vorschlag zu machen. Aber… also gern tu ich’s nicht, gar nicht gern.«
Tuppence sah ihn kalt an. »Und warum nicht?«
»Schließlich sind Sie ja Deborahs Mutter. Und ich denke… wirklich, was wohl Deb sagen würde, wenn… wenn…«
»Wenn mir etwas zustieße?«, fragte Tuppence. »An Ihrer Stelle würde ich ihr nichts davon erzählen. Erklärungen führen nur zu Missverständnissen, hat einmal ein kluger Mann gesagt.« Dann lächelte sie ihn freundlich an. »Mein lieber Junge, ich kann mir genau vorstellen, wie Ihnen zu Mute ist. Sie meinen, Sie und Deb und überhaupt alles, was jung ist, kann sich ruhig in Gefahr begeben, aber ältere Damen müssen geschont werden. Großer Unsinn, mein Junge. Wenn jemand draufgehen soll, dann doch lieber die Älteren, die das Beste vom Leben schon gehabt haben. Aber nun sehen Sie mich nicht länger an wie ein Heiligtum, weil ich Deborahs Mutter bin, sondern erzählen Sie mir endlich, was es mit diesem gefährlichen und unangenehmen Auftrag für mich auf sich hat.«
»Sie sind eine großartige Frau!«, rief Tony begeistert.
»Schluss mit Komplimenten«, sagte Tuppence. »Ich habe selbst eine sehr hohe Meinung von mir, also brauchen Sie mich darin nicht auch noch zu bestärken. Worin besteht mein Auftrag?«
Tony wies mit einer Handbewegung auf den zerknüllten Stoffballen.
»Das sind die Überbleibsel eines Fallschirms«, erklärte er.
»Oho«, sagte Tuppence mit funkelnden Augen.
»Es war nur ein einziger Fallschirm«, fuhr Marsdon fort. »Glücklicherweise ist die Küstenwache hier reichlich vertreten, und die Wachmannschaft war auf der Hut. Die Leute waren rechtzeitig zur Stelle, um sie festzunehmen.«
»Sie?«
»Ja, sie. Es war eine Frau, als Krankenschwester verkleidet. Eine nicht mehr ganz junge Frau, mittelgroß, dunkelhaarig, zierlich gebaut.«
»Mit einem Wort: so ähnlich wie ich?«
»Sie haben es erfasst.«
»Und?«, fragte Tuppence.
»Ja«, sagte Tony langsam, »nun kommt es auf Sie an.«
»Schon im Bilde«, erwiderte Tuppence lächelnd. »Wohin soll ich gehen und was soll ich tun?«
»Mrs Beresford, Sie sind ein Prachtmensch. Nerven haben Sie!«
»Wohin soll ich gehen, und was soll ich tun?«, wiederholte Tuppence ungeduldig.
»Leider sind die Instruktionen recht spärlich. Die Frau hatte in ihrer Tasche ein Stück Papier, darauf stand auf Deutsch ›Weg nach Leatherbarrow, gerade östlich vom Stei n kreuz. St. Asalph’s Road 14. Dr. Binion‹.«
Tuppence blickte auf. Oben auf dem Hügel, ganz nahe, stand ein steinernes Kreuz.
»Das ist es«, sagte Tony. »Die Wegweiser sind natürlich alle fort. Aber Leatherbarrow ist ein größerer Ort, und wenn Sie sich vom Kreuz aus genau östlich halten, müssen Sie hinkommen.«
»Wie weit?«
»Mindestens acht Kilometer.«
Tuppence schnitt eine kleine Grimasse. »Na, Spazierengehen vor dem Mittagessen soll ja der Gesundheit zuträglich sein«, meinte sie. »Aber hoffentlich lädt mich Dr. Binion zum Essen ein, wenn ich ankomme.«
»Sprechen Sie deutsch, Mrs Beresford?«
»Gerade das, was man im Hotel braucht. Nein, ich werde englisch sprechen. Ich kann ja sagen, dass meine Instruktionen mir das vorschreiben.«
»Das scheint mir sehr gewagt«, meinte Marsdon.
»Unsinn. Wer wird denn auf den Gedanken kommen, dass ich nicht die Richtige bin? Weiß etwa die ganze Gegend, dass jemand mit dem Fallschirm herunterkam und festgenommen wurde?«
»Die beiden Wachleute, die die Nachricht brachten, werden vorläufig festgehalten. Sie sollen nicht allen Freunden von ihrer Heldentat erzählen.«
»Also?«
»Wir haben alles Nötige hier«, sagte Tony. »Auch eine Frau von der Polizei, Spezialistin für Verkleidungen und Maskierungen. Kommen Sie bitte.«
Im
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